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Alt 28.04.2006, 22:25
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rezzan rezzan ist offline
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Standard AW: Die Mutter meines Freundes

Hallo Jolisa,
auch ich habe vor jetzt fast schon vier Jahren meine Mutter verloren. Sie musste lange zwei Jahre mit ihrer Krankheit kämpfen. Das waren die schlimmsten Jahre meines Lebens und ich weiß bis heute nicht genau, wie ich das überlebt habe. In der ganzen schrecklichen Zeit habe ich mehrere Phasen durchlaufen, konnte ganz lange überhaupt niemanden um mich herum ertragen, dann wieder habe ich alle anderen dafür gehasst, dass es ihnen gut geht. Alle meine lieben Freunde, die sich um mich scharten, mir Briefe schrieben, anriefen, mich immer wieder wissen ließen, dass sie mir helfen wollen konnte ich einfach nicht ertragen. Und was das schlimmste war: sie waren mir einfach egal, wirklich absolut egal und gleichgültig. Das hört sich sehr schlimm an, aber genauso habe ich gefühlt, nichts absolut gar nichts hatte mehr irgendeine Bedeutung für mich. Alle meine Gedanken kreisten nur um meine Mutter und dass sie bald sterben musste. Was gab es denn demgegenüber, was irgendeine Bedeutung haben konnte? Absolut nichts.

Tagsüber habe ich wie eine Maschine funktioniert, ging arbeiten, war abends bei ihr und wäre am liebsten jede einzelne Sekunde nicht von ihrer Seite gewichen. Ich habe in dieser Zeit sehr vielen lieben Menschen sehr weh getan und das tut mir auch sehr sehr leid.

Es muss sehr schwer für sie gewesen sein, zumal ich vorher ein ganz anderer Mensch war und über Nacht war alles weg!

Zum Glück haben einige wenige "durchgehalten" und sind mittlerweile die wichtigsten Menschen in meinem Leben. Mein damaliger Freund gehörte leider nicht dazu. Auch er konnte und wollte nicht begreifen, dass das eine so traumatische Situation für mich war, dass meine Psyche einfach dicht gemacht hat. Er wollte unbedingt teilhaben an meinen Sorgen und meinem Schmerz, mir helfen, sich dadurch auch mit mir verbunden fühlen, aber weißt du was? Das ging einfach nicht. Das hätte ich vorher auch niemals gedacht, aber es ging einfach nicht, ich konnte das mit niemandem teilen und alles was ich gebraucht hätte war in Ruhe gelassen zu werden.
Vielleicht geht es deinem Freund ähnlich?

Neben all dem Kummer musste ich mir dann auch noch täglich anhören wie gerne er mit mir darüber reden möchte usw. Anfangs noch sehr liebevoll und täglich klang das immer fordernder und ganz leise zwar, aber immer anklagender. Und dann auch immer die Frage, warum ich denn jetzt bei ihr sein müsste, es ginge ihr doch noch ganz gut - Wow, dafür hätte ich ihn echt umbringen können! Wie zynisch ist das denn bitte! Na klar hatte ich einfach weniger Zeit für ihn - aber verdammt nochmal meine Mutter lag im Sterben, jeder Tag konnte der letzte sein! Konnte er sich und seine Bedürfnisse nicht einfach mal hintenanstellen? Zum Schluss habe ich mich dauernd schuldig gefühlt - und das zu dem Gefühlschaos, das sowieso in mir tobte. Er war schlicht zu einer weiteren Belastung geworden, die ich nicht mehr ertragen konnte. Naja, du kannst dir sicher denken, dass das nicht gutging.

Heute hat mein Vater Lungenkrebs und auch bei ihm gibt es nicht viel Hoffnung, dass er dieses Jahr noch überlebt. Trotzdem ist es dieses Mal anders für mich. Es hat mich emotional nicht so aus der Welt geschossen. Vielleicht liegt es daran, dass das "erste mal" wahrscheinlich besonders schlimm ist. Wie gesagt, ich bin sicher ein extremer Fall, aber wenn es deinem Freund auch nur einen Hauch ähnlich geht, wäre es sicher besser, wenn du ihm seinen Raum lässt. Nimm es nicht persönlich, dass er gerade keinen Kopf für dich und deine Gefühle hat, seine eigenen fahren gerade Achterbahn. Und vieles kann man auch nur mit sich selbst verarbeiten.

Übrigens: ich habe in der ganzen Zeit keine Sekunde aufgehört meinen Freund zu lieben, ich war nur gefangen in mir selbst. Es tut mir heute noch weh, ihn verloren zu haben. Also sei bitte geduldig mit ihm und setz ihn nicht zusätzlich unter Druck. Sicher hast auch du Bedürfnisse, aber ich bin sicher es kommen auch noch andere Zeiten, in denen er dir eine Hilfe sein kann.

Ich wünsche euch alles Liebe und entschuldige bitte, dass ich so lange geschrieben habe, aber dein Beitrag hat wieder vieles in mir hochgerufen.

Liebe Grüße, Rezzan
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