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Alt 30.05.2003, 22:56
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Standard das soll es nun gewesen sein

Liebe Lena,
ich glaube gar nicht, daß ich stark und tapfer bin. Oder gewesen bin. Ich wollte in diesem einem Jahr so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen; das war durchaus auch ein bißchen selbstsüchtig. Aber ich wollte ihm auch zeigen, daß er nicht allein ist, daß er sich auf mich verlassen kann so wie ich mich auf ihn. Und ich habe immer auf ein Wunder gehofft.
Aber dieses Jahr war trotzdem für mich die nackte Katastrophe. Jeden Tag hat sich alles in mir vor lauter Angst zusammengekrampft; jeden Abend Heulerei aus Angst. Angst, Angst, Angst.

Als die Diagnose kam, hat er mir mal gesagt, er sei nicht so böse, wenn er sterben müsse. Aber er sei böse, weil er nichts mehr richtig machen könne.
Er war wie ich ein großer Rosen-Fan. Wenn ich besonders schöne Rosen gesehen habe, mußte ich auch gleich wieder heulen - aus Angst, daß er sie eines Tages nicht mehr sehen kann. Aber Du kennst das ja alles.

Weißt Du, ich an Deiner Stelle würde das Fach-Abi machen. Und wenn es jetzt partout nicht geht, dann behalte den Gedanken im Hinterkopf, bald wieder damit anzufangen. Ich hatte nach der Diagnose auch überlegt, alles hinzuwerfen und war in Gedanken ausschließlich bei meinem Vater. Aber ich habe weitergemacht, z.B. mit meinem Beruf. Ganz bestimmt nicht, weil ich mich für so toll halte in dem Job oder weil ich karrieresüchtig bin. Eher deshalb, weil ich wußte, daß ich damit niemandem helfe und er es auf keinen Fall wollen würde. Und vor allem, weil ich, wenn ich nicht genügend beschäftigt bin, zum Grübeln neige. Und dann drei Stunden vor mich hinstarre und anschließend heule. Also: Ein Fachabitur ist bestimmt eine gute Sache. Und sei es nur, weil Du vielleicht doch mal wenigstens ein Stündchen an etwas ganz anderes denken mußt. Das strengt auf der einen Seite sehr an; auf der anderen Seite gibt es auch wieder Kraft. Wobei es natürlich auch sehr schwierig ist, sich selbst ohne Einflüsse von außen durch Lernen abzulenken. Das klappt ja auch bei vielen Studenten schlecht - dieses Sich-selbst-Motivieren. Und in so einer Situation ist es doppelt schwer. Meist geht das nur, wenn man schon immer für eine bestimmte Sache sehr viel Interesse hatte. So eine Art Hobby eben.

Die liebe Verwandtschaft ist manchmal etwas trottelig. Mein Onkel hat mich in diesem Jahr mal gefragt, wie es mir so gehen würde. Ich habe ihm geantwortet, daß mir wegen der Krankheit meines Vaters auch nicht besonders gut sei. Er hat nur die Schultern gezuckt und gesagt: "So ist das Leben" und ist weggegangen. Er wollte einfach nichts hören. Das nächste Mal habe ich ihn bei der Beerdigung wiedergesehen. Er hat geheult wie ein Schloßhund.

Es gab noch ganz andere Geschichten mit Verwandten und Bekannten.

Angst vor Erinnerungen hatte ich auch. Jetzt nicht mehr, weil ich sie sowieso nicht stoppen kann. Aber ich habe Angst, mich mit anderen über ihn unterhalten zu müssen. Manche Leute trauern auch um ihn und sie haben dann jedes Mal dieses eine Thema. Das macht mich fertig. Ich denke so viel an ihn aber ich will nicht in jedem Satz hören: "Da waren wir auch schon mal, da war Dein Vater noch dabei". Und da ich da nicht drüber reden will, denken alle, daß ich die Sache schon überwunden habe. Sollen sie ruhig.

Dein Papi macht sich sicherlich Sorgen um Dich, wenn er bemerkt, wie Dich seine Krankheit beschäftigt und wie sie Dich vom Lernen abhält. Und natürlich hat er das längst bemerkt. Das ist auch so eine Schwierigkeit. Man will ihm helfen und bei ihm sein aber gleichzeitig ist man auch ein bißchen Ursache seiner Sorge. Liebe kann so bitter sein.

Ich wünsche Dir eine erfolgreiche Prüfung am Samstag. Wenn es klappt, ist das toll. Wenn es nicht klappt, ist es nicht schlimm. Der Versuch ist doch schon im Sinne Deines Vaters.

Liebe Grüße
Marga
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