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Alt 04.05.2009, 13:57
Kirsten67 Kirsten67 ist offline
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Standard Erfahrungen einer Angehörigen

Hallo,

bei meinem Papa wurde im Mai 2008 ein Tumor an der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert.
Die geplante Whipple-OP konnte nicht durchgeführt werden, weil sich die Befürchtung von Leber-Metastasen bewahrheitet hatte. Er bekam Chemo, erst Monotherapie mit Gemzar. Als sie nach dem zweiten 12-Wochen-Zyklus nicht mehr wirkte, wurde auf dringenden Wunsch meines Papas noch ein Versuch mit 5-FU, Folinsäure und Oxaliplatin gestartet.

Im Laufe der 10 Monate zwischen der Diagnose und Papas Tod habe ich einige Erfahrungen gesammelt, die ich hier niedergeschrieben habe. Es sind MEINE Erfahrungen. Andere Menschen machen andere Erfahrungen, vielleicht sogar konträre. Es sind auch nur kurze Anrisse, alles nieder zu schreiben wäre ein seitenlanger Beitrag geworden.

Aber vielleicht hilft es dem einen oder anderen, der neu hier ist.

Chirurgische Eingriffe nur in einer Spezialklinik
Whipple-OPs und auch andere Eingriffe wie z.B. die Bypass-OP (s.u.) sollten nur in einer Spezialklinik vorgenommen werden (am besten auch die Stent-Legung). Mein Papa war für die große OP in Bochum bei Prof. Uhl. Das war erstklassig. Ich bin davon überzeugt, dass ihm durch die Bypass-OP zusätzliches Leiden erspart blieb. Die Stent-Legung wurde zuerst in einem Krankenhaus vor Ort versucht. Dabei ist einiges schief gegangen, bis dann eine spezialisierte Klinik das hinbekommen hat.

Zweitmeinung
Im Zusammenhang mit OPs bzw. Nicht-OPs wird immer das Einholen einer Zweitmeinung empfohlen. Dies gilt aus meiner Sicht auch für die palliative Chemo. Wir haben immer einen zweiten Onkologen um seine Therapieempfehlung gebeten. Als mein Papa merkte, dass ihm keine Chemo der Welt mehr helfen konnte, war er zumindest sicher, die bestmögliche Therapie bekommen zu haben. Das ist mehr ein psychologischer Aspekt.
Jeder gute Arzt, egal ob Chirurg oder Onkologe, wird übrigens einer Zweitmeinung zustimmen.

Einer in der Famile sollte sich schlau machen und bei wichtigen Arztgesprächen dabei sein.
Das geht auch aus der Ferne, dann sollte man den behandelnden Arzt, z.B. im Krankenhaus einmal vorher gesehen haben, das hilft.
Es hilft auch, im Vorfeld mit dem Patienten alle wichtigen Fragen zu notieren und während des Gesprächs alle Antworten fest zu halten. Außerdem habe ich die Ärzte so lange und immer wieder gefragt, bis ich es richtig verstanden hatte. So konnten wir im nach hinein noch mal alles in Ruhe zu Hause besprechen.

Die Bypass-Operation wurde gemacht, weil der Tumor nicht mehr entfernbar war. Grund war das Vorhandensein von Metastasen. Bei dieser Bypass-OP wurden Galle und Blinddarm entfernt. Gelegt wurden dann zwei Bypässe = neue Verbindungen aus der Leber und dem Magen jeweils in den Dünndarm. So kann der Tumor nicht mehr stören, wenn er sich vergrößert (Gelbsucht, Verrutschen der Stants, Unterbrechung der Verdauungswege).

Tumormakrer CA 19-9: Auch wir haben diesen Marker fieberhaft verfolgt. Gebangt, wie hoch er ist. Dabei sagt die Höhe des Markers nicht zwingend etwas über den Fortschritt der Krankheit. Bei Papa war der höchste Wert unter 700. Es gibt Berichte im Forum über Werte in den zig-Tausenden. Und im Verlauf der Erkrankung ist der Marker dann bei Papa sogar gesunken und hat sich auf 100- 150 "eingependelt". Müßten wir nochmal von vorne da durch, würde ich (hoffentlich) keinen Blick mehr auf den Marker oder andere Blutwerte werfen. Unsere Stimmung war in Teilen abhängig von den Werten. Vielleicht wäre der ein oder andere Tag viel schöner gewesen ohne das Wissen um die Blutwerte.

Welche Chemo ist die richtige?
Meine Erfahrung: Das können wir Laien gar nicht beantworten. Zu berücksichtigen sind die Art des Tumors, Metastasen, die körperliche und seelische Verfassung und insbesondere auch Zusatzerkrankungen (z.B. des Herzens).

Informationen
Sehr zu empfehlen sind aus meiner Sicht die blaue Ratgeber der Krebshilfe: BSDK, Schmerzen, Fatique
http://www.krebshilfe.de/blaue-ratgeber.html

Und natürlich das Forum hier!!!!

Auch der Krebsinformationsdienst hat wertvolle Hinweise gegeben.
http://www.krebsinformationsdienst.de/


Zusatzversorgung
Die ergänzende Misteltherapie war für meinen Papa sehr gut, auch während der Chemo. Mein Vater hat sich gut damit gefühlt. Das alleine zählt, wenn die Metastasen wachsen und es keine echte Chance mehr gibt.
Die Mistel gibt’s auf Rezept, auch bei den gesetzlichen Kassen!!!

Fresubin war als Nahrungsergänzung ebenfalls gut, und das gibt’s auch auf Rezept, auch bei den gesetzlichen Krankenkassen. Musterrezepte (!!!) dazu kann man im Internet finden und dem Hausarzt zur Verfügung stellen.

Auf Empfehlung bekam mein Papa Zusatznahrung, u.a. Lipovenös. Von einer Hospiz-Mitarbeiteren (s.u.) wurde ich dann gefragt, ob Papa davon nicht schlecht wurde. Ja, es war ihm oft sehr übel. Aber das wusste kaum jemand, dass es da einen Zusammenhang gibt.
Mein Papa hat irgendwann dann die Zusatznahrung abgelehnt. Auch die Flüssigkeitsgabe. So schwer das für uns ist, wir haben es akzeptiert und sind froh, dass mein Papa dies selber entscheiden konnte.

Dronabinol zur Appetitsteigerung hat er erst sehr spät bekommen. Ob es Wirkung gezeigt hätte, kann ich leider nicht mehr sagen.

Haldol hat mein Papa erst relativ spät bekommen. Es war das einzige Medikament, welches seiner Psyche ein klein wenig Ruhe verschaffen konnte. Außerdem hat es eine verstärkende Wirkung auf Schmerzmittel und lindert die Übelkeit.

Mein Papa litt eine lange Zeit unter schweren nächtlichen Schweißausbrüchen. Es hat etwas gedauert, bis wir herausgefunden haben, dass es an den Zuckertabletten lag. Man war davon ausgegangen, dass er Diabetes hat, weil das oft so ist, also gabs Tabletten gegen Zucker. Nach regelmäßigen Zuckermessungen hat er dann die Tabletten abgesetzt und die Schweißausbrüche reduzierten sich auf ein erträgliches, chemo-bedingtes Maß.

Bluttransfusionen: Besonders während der Chemo mit Gemzar war Papas Hb-Wert oft sehr niedrig. Bereits ab einem Hb-Wert von < 10,0 g/dL bekam Papa Bluttransfusionen, die seine Müdigkeit erheblich minderten.

Patientenverfügung
Die Frage nach einer Patientenverfügung hat sich uns natürlich auch gestellt. Aus meiner Sicht sind die Bausteine vom Bundes-Justiz-Ministerium die verbindlichsten. http://www.bmj.de/enid/e346185efaab7...uegung_oe.html
Es kostet allerdings sehr viel Kraft, diese auch wirklich zu erstellen. Und es setzt voraus, dass man sich damit auch auseinander setzten kann und will. Papa wollte das nicht mehr, deshalb haben wir für ihn "nur" einen zweiseiten Vordruck verwendet, den uns der Hausarzt zur Verfügung gestellt hat. Am Ende haben wir das nicht benötigt. Aber Mama und ich haben jetzt eine vollstänge Verfügung auf Basis der Bausteine vom BMJ.



Es gibt einiges, was wir zu spät in die Wege geleitet haben. Könnte ich heute noch mal entscheiden, würde ich die folgenden Dinge viel viel früher angehen:

Mein Papa hat am Ende eine Zöliakusblockade bekommen. Sie hat ihm tatsächlich für 2 Tage die Schmerzen genommen. Die Schmerzen, die dann kamen, waren andere und hatten damit nichts zu tun. Hätten wir die Blockade eher durchführen lassen, hätten wir Papa sicher noch mehr Erleichterung bringen können. Der Eingriff war unkompliziert und nur wenig belastend.

Papa hat während der Chemo mit 5-FU einen Schluckauf bekommen. Hier haben wir viel zu lange gewartet, bis er ins Krankenhaus kam, wo dann ein Pilz als Ursache gefunden wurde. Mit dem heutigen Wissen hätten wir ihn schon nach einem Tag Schluckauf in KKH bringen sollen. Da fängst nämlich an, dass es unnormal und quälend wird.

Irgendwann in den letzten Tagen hat der Hausarzt entschieden, Papa Cortison zu geben. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube, das war eine gute Sache. Ich wünsche, wir hätten das 2 Wochen eher dazu genommen.

Betreuung
Ich hätte gerne ein ambulantes Hopsiz eingebunden. Papa wollte das aber nicht. Letztendlich bin ich dort für mich hingegangen. Heute würde ich das viel früher machen. Es hat MIR geholfen und ich habe dort wertvolle Tipps und Hinweise bekommen (z.B. dass BSDK-Patienten von Lipovenös oft schlecht wird und zur Hilfe für die Flüssigkeitsaufnahme). Und damit hat es auch indirket Papa geholfen.

Despressionen und Trauer
Mein Papa war oft sehr traurig und depressiv. Kein Medikament hat geholfen. Zum Psychologen wollte er nicht. Aber ich bin gegangen um zu lernen, meinem Papa zu helfen. Es hat etwas gedauert, aber dann habe ich mit Hilfe dieser Psychologin gelernt, dass es mehr gibt, als die Diagnose, die den Patienten erschüttert.
Es kann sein, dass ein Mensch in dieser Zeit nicht nur seine aktuellen Ängste verarbeitet, sondern alle Ängste und all seine Trauer aus seinem bisherigen Leben. Wenn dies der Fall ist und man dann ein Türchen für diese Trauer öffnet, kann dies eine große Hilfe sein. Und es kann uns einander näher bringen, als wir jemals geahnt hätten.

Also, was ich eigentlich sagen will: Wenn der Patient keine psychologische und hospizliche Betreuung möchte, heißt das nicht, dass wir sie nicht in Stellvertretung suchen können. Ich habe die Erfahrungen gemacht, dass diese Menschen sehr bemüht sind, auch „um diese Ecke rum“ zu helfen. Und bei uns hat es gut funktioniert. Und die Zeit, die man dafür aufbringen muss, hat sich allemal gelohnt. Jedes Fünkchen Erleichterung ist Lohn genug für alle Aufwände.

Die Würde
Das Wichtigste ist, die Würde des Patienten zu erhalten und ihn soweit irgend möglich, selber entscheiden zu lassen. Dies gilt für die Frage, wo der Patient liegen will, ob er den Mund abgetupft haben will, Creme möchte, eine Decke braucht, Musik hören will, Schmerzmittel braucht..... eben für alles. Das ist manchmal mühselig, besonders, wenn man keine eindeutige Antwort mehr bekommt. Aber es geht länger und besser als man vorher denkt, wenn man sich gemeinsam vereinbart. Manchmal sind Pflegedienste etwas merkwürdig in den Vorschlägen, man kann dem ruhig widersprechen (Z.B. wurde ich gebeten, das Gitter im Pflegebett hoch zu ziehen. Warum konnten sie nicht sagen. Also habe ich es gelassen.)

Es gibt in den Erfahrungsberichten einen wundervollen Beitrag zum Respekt vor Wünschen http://www.krebs-kompass.org/cms/content/view/1485/

Abschied und Tod: Oft habe ich mich gefragt, wie das Sterben ablaufen wird. Wie erkenne ich, dass "es" so weit ist? Wie kann ich meinen Papa in dieser Zeit unterstützen. Ich möchte dazu ein Buch empfehlen: "Zeit des Abschieds: Sterbe- und Trauerbegleitung" von Monika Specht-Tomann, Doris Tropper. Das Buch wird auch in der Ausbildung von Hospizmitarbeitern verwendet. Das Buch wirklich zu lesen war nicht einfach. Aber letzendlich hat es mir viel geholfen und Unsicherheiten und Ängste genommen.
Kürzer aber auch sehr informativ ist die Broschüre der Krebsgesellschaft NRW http://www.krebsgesellschaft-nrw.de/...begleitung.pdf

Hoffnung - dies ist ein sehr persönlicher Teil
Spätestens, als Papa sich gegen die Fortsetzung der Chemo entschieden hatte, liefen wir alle Gefahr, die Hoffnung zu verlieren. Spätestens da - eigentlich schon nachdem die Metas trotz Chemo ungebremst weiter wuchsen - haben wir uns von der Hoffnung auf Verzögerung des Verlaufs und erst recht von einer Heilung verabschiedet. Und dennoch hatte Papa Hoffnungen, denn anders hätte er die letzte Zeit gar nicht verkraften können. Aber die Hoffnung bezog sich dann auf andere Dinge, wo wir im zeigen wollten, dass wir alles tun würden, um ihm diese Hoffnungen zu erfüllen: dass er möglichst wenig Schmerzen hat, dass wir ihn in alle Entscheidungen einbeziehen (5 Tage vor seinem Tod hat er noch über die Farbe eines neuen Stuhlbezug entschieden), dass wir ihn nicht alleine lassen und ihn nicht alleine sterben lassen, dass wir gemeinsam gute Stunden genießen können, dass er seine Würde behält, dass er immer in unserer Erinnerung bleibt, dass wir das, was er uns hinterläßt (nicht im materiellen Sinne) würdigen und dankbar dafür sind.
Ob wir alle ihm wichtigen Themen berührt haben, weiß ich nicht - aber es war keine totale Hoffnungslosigkeit, nicht für ihn und nicht für uns.

Was können wir sonst noch als Angehörige tun?
Da sein, Zeit haben, den Patienten uneingeschränkt und bedingungslos akzeptieren und lieben und dies auch oft und offen zeigen.
Wir können empfindsam sein und bei vermuteten Problemen den Patienten ansprechen. So hat mein Papa immer gestöhnt, wenn er an die Zusatznahrung angeschlossen wurde. Irgendwann war mir das so komisch, da habe ich dann gefragt: Möchtest Du überhaupt noch die Zusatzversorgung. Mein Papa hat dann den Kopf geschüttelt. Selber hätte er nichts gesagt – uns zuliebe. Aber so konnten wir dann doch noch seinem Willen entsprechen.
Wir können Angebote machen, was wir für hilfreich halten. Aber nicht alles empfindet der Patient selber als hilfreich.

Wir können loben, danken und darauf hinweisen, was nach dem Tod bleibt, was der Patient geschaffen hat, was von ihm in dieser Welt bleibt.

Manchmal können wir dann nicht mehr helfen. Das Schlimmste ist gut gemeinte Hilfe, die mehr schadet als hilft.
Und dann müssen wir unsere Hilflosigkeit aushalten – zum Wohle und im Sinne unserer Lieben.


So, dies sind – wie gesagt – meine Erfahrungen. Wenn mir noch was einfällt, werde ich es ergänzen.
Ich wünsche mir, dass sie dem einen oder anderen weiter helfen, vielleicht Hinweise geben, vielleicht Sicherheit geben.

Jedenfalls wünsche ich allen, die dies Lesen, alles Liebe, viel Kraft und Durchstehvermögen.

Kirsten.
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Mein Papa: Diagnose BSDK mit Lebermetastasen Ende Mai 2008
Den schweren Kampf verloren am 05.04.2009


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Geändert von Kirsten67 (25.06.2009 um 13:53 Uhr) Grund: Buchempfehlung und Link zur Sterbebegleitung
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