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Alt 05.10.2010, 09:53
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Hallo Ihr beiden,

Zitat:
Was ist besser, frage ich mich? Mit der Krankheit so verhalten umgehen wie damals zu Maxie Wanders Zeiten? Oder so direkt und offen wie heute?
Diese Frage hatte ich eigentlich "nebenbei" gestellt ohne mir in dem Moment so richtig über die Tragweite im Klaren zu sein. Anhand Eurer und anderer Beispiele sehe ich, wie verschieden solche Diagnose / Aufklärungsgespräche von ärztlicher Seite her geführt werden können. Ich selbst erliege ja immer wieder den Fehler, dass ich das, was ich erlebe, für den "Standard" halte. Aber es wurde deutlich, dass es doch große Unterschiede gibt. Und auch jeder Patient geht anders mit der Wahrheit um. Ich selbst bevorzuge die direkte Ansage. Dann weiß ich, worauf ich mich einstellen kann. Aber andere Patienten schieben den Ernst der Lage lieber weit von sich.

Was ist besser...?? - Diese Frage lässt sich aus meiner Sicht letztlich nur von der eigenen Einstellung zum Tod her beantworten. Je offener ich dem Tod ins Auge sehen kann, umso direkter kann ich mich auch einer schlechten Diagnose oder einer harten Wahrheit stellen.

Aber wie ich zum Tod stehe und wie offen ich mit ihm umgehe, hängt auch von den Erfahrungen ab, die ich mit ihm gemacht habe.

Vor gut 90 Jahren, als der Tod als öffentliches Ereignis noch präsenter unter den Menschen war, konnte Otto Reuter noch singen:

"Und fürchte dich nie, ist der Tod auch nah,
Je mehr du ihn fürcht’st, um so eh’r ist er da.
Vorm Tode sich fürchten, hat keinen Zweck,
Man erlebt ihn ja nicht, wenn er kommt, ist man weg.
Und schließlich kommen wir all an die Reih’ —
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei. ..."

Heute ist uns der Tod und das Sterben ferner gerückt. Sterben findet fast nur noch und selten genug im engsten Familienkreis statt. Es geschieht verborgen und diskret. Nur in den Medien ist es präsent, aber eben auch nur als mediales Ereignis und nicht mehr als Erfahrung des eigenen Lebensumkreises. Wer hat – außer im engsten Familienkreis – einen Menschen sterben sehen? Wer hat schon früh eine Leiche angefasst und betastet und gespürt, wie sich der Tod anfühlt? Weil das nicht mehr zum Alltag gehört, fehlt einfach die Erfahrung damit, und das macht es auch vielen Menschen heute schwerer, damit umzugehen, wenn sie selbst betroffen sind.

Und jetzt mache ich einen noch weiteren Sprung in die Vergangenheit. Vor gut 490 Jahren war der Tod und das frühe Sterben leidvolle Alltagswirklichkeit. Was wir heute aus Büchern lernen, konnten die Menschen selbst am Schicksal ihrer nächsten Mitmenschen ablesen. Martin Luther beschreibt, was er sah und wie er es deutet:

"Aber der enge Gang des Todes macht, daß uns dies Leben weit und jenes eng dünkt. Darum muß man das glauben und an der leiblichen Geburt eines Kindes lernen, wie Christus sagt: 'Ein Weib, wenn es gebiert, so leidet es Angst. Wenn sie aber genesen ist, so gedenkt sie der Angst nimmer, dieweil ein Mensch geboren ist von ihr in die Welt.' So muß man sich auch im Sterben auf die Angst gefaßt machen und wissen, daß danach ein großer Raum und Freude sein wird."

Sterben und Geburt rücken ganz eng zusamnmen und werden hier beide als Übergangserfahrungen erkennbar: von einem Raum in den anderen in der Abfolge von Angst, Schmerz und Freude. Wenn ich das Sterben von der Geburt her begreife, verändern sich auch die Erwartungen, die ich damit verbinde, und damit verliert auch der Tod ein Stück der Bedrohlichkeit, die sich einstellt, wenn uns die Erfahrungen fehlen und statt dessen Phantasie das Denken beherrscht. Die Phantasien sind oft viel angstauslösender, weil sie vor keiner Grenze Halt machen.

Beste Grüße
Ecki