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Alt 17.12.2006, 00:09
Benutzerbild von struwwelpeter
struwwelpeter struwwelpeter ist offline
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Idee AW: ***weihnachtsgeschichten***

Die Weihnachtsverpflichtung

"Du Bruderherz, wie hältst du es diesmal mit Weihnachten? Ich meine – fährst du wieder zur Mutter, oder hast du sonst was vor?"
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt sarkastisch: "Ob ich anderes vorhabe ist gut! Klar würde ich lieber gleich zum Skilaufen fahren – und Marion natürlich auch. sie hält mich total sentimental, dass ich am Heiligabend bei Mutter sein muss."
"Bei mit ist es genauso. Aber jetzt, da sie allein ist, können wir schlecht anders. Wenigstens Heiligabend und am ersten Feiertag sollten wir schon da sein. Mir wird zwar jetzt schon unbehaglich, wenn ich an Mutters Weihnachtsbrimborium denke, aber wir werden's wohl überstehen."
"Im letzten Jahr haben wir ihr allerdings tüchtig unsere Meinung gesagt, weißt du noch?"
"Und ob! Von der verlogenen Gefühlsduselei, die weder mit dem religiösen Gehalt des Festes noch mit unserer Lebenssituation viel zu tun hat. Sie hat arg geschluckt daran und seitdem nie mehr darüber gesprochen."
"Glaub doch nicht, dass du einen Menschen in ihrem Alter noch ändern kannst. Aber ich freue mich, dich wiederzusehen; kommt ja schließlich auch nicht mehr häufig vor."
Martin Leichtbauer legte den Hörer auf die Gabel und stellte zu seinem eigenen Verwundern fest, dass er erleichtert war, ja dass er sich freute auf die vermeintliche Verpflichtung, Weihnachten bei der Mutter verleben zu müssen ....
Als er am frühen Nachmittag des 24. Dezember an der Wohnungstür seiner Mutter klingelte, öffnete sein Bruder die Tür.
"Prima, dass du da bist, vor etwa 10 Minuten bin ich angekommen!"
"Und Mutter?" "Sie ist im Weihnachtszimmer – Wohnzimmer, meine ich. Da darf ja eh und je vor Heiligabend niemand rein. Ich glaube, es würde ihr ganz gut passen, wenn wir noch eine Weile aus den Füßen wären – und ich hätte Lust, vor Einbruch der Dunkelheit mit dir einen Spaziergang zu machen. Auf den Pfaden unserer Kindheit", fügte er lachend hinzu.
Die Straßen waren ziemlich menschenleer, als die beiden Brüder nebeneinander durch die früh einsetzende Dämmerung des Heiligen Abends gingen.
"schon ein komisches Gefühl, als Erwachsener über dieselben Straßen zu gehen, die man als Junge so gut gekannt hat. es ist dasselbe und doch überhaupt nicht mehr dasselbe .....", sagte Martin.
"Wir haben uns verändert", antwortete ihm der Bruder, "sehr sogar – und die Straßen auch. schau mal da, wo jetzt diese grässliche Tankstelle steht, war früher das windschiefe Fachwerkhäuschen der alten Frau Übertür. Erinnerst du dich nicht mehr an sie? Wir klopften im Vorbeilaufen immer an ihre Tür und hatten unseren Spaß daran, wenn sie schimpfend mit ihrem Besen gerannt kam ... Man hat sie dann in ein Heim gebracht und das Haus abgerissen ..."
"Du, ich muss lange nicht mehr hier gewesen sein – da hinten, wo früher Weiden standen, ist jetzt eine Fabrik. Aus dem Holz der Weiden haben wir uns Flöten gemacht ... Und wo ist der Bach, der dort floss?"
"Längst kanalisiert und überbaut. Das ganze Gebiet, in dem man abends die Frösche quaken und so viele Vögel singen hörte, ist trockengelegt und zu einem Industriegeländer gemacht worden. Hat dir Mutter nicht die Zeitungen geschickt damals, als die Entscheidung dafür im Stadtrat zur Diskussion stand? Man müsse den Mut haben, alte Zöpfe abzuschneiden und sich den Gegebenheiten und Erfordernissen der Jetztzeit anzupassen, lautete die verherrschende Meinung."

Martin spürte, wie ein Schaudern ihn überlief. Er klappte den Kragen seines Mantels nach oben, zog unwillkürlich die Schultern hoch und suchte mit den Augen so etwas wie einen tröstenden Halt, einen Schutz. Seine Blicke aber irrten vergeblich den Horizont entlang über die düsteren Silhouetten von Schornsteinen, Hochhäusern und Hochspannungsmasten. - "Lass uns nach Hause gehen", sagte er, "es ist ungemütlich hier und Mutter wird fertig sein.

"Meinst du nicht, dass es ihr einen Knacks gegeben hat, als wir letztes Jahr über ihr Bürgerweihnachten gelästert haben? Die Künstlichkeit der trauten Stimmung, des Singenmüssens, die Zwänge der Gottesdienste und Mahlzeiten - statt eines lockeren Ausschlafens . . "
"Du, ich habe den Eindruck, dass das alles für Mutter gar nicht künstlich ist, ihr gibt das alles was. Da, sieh mal, in unserer Wohnung brennt schon der Weihnachtsbaum und - ist das nicht Mutters Stimme?"

Die beiden waren wieder vor dem Haus ihrer Mutter angekommen. Aus dem oberen Stockwerk konnte man deutlich die Klänge eines Klaviers und eine Frauenstimme vernehmen: "Vom Himmel hoch, da komm ich her . . "

"Sie übt sicher für das gemeinsame Krippenprogramm, räusper dich schon mal. Wollen wir klingeln?"
"Wart noch einen Moment, gleich ist sie fertig. - Du, sie fängt noch ein Lied an: Es ist ein Ros' entsprungen - ihre alten Lieblingslieder. Und dass der Weihnachtsbaum schon brennt! Vielleicht haben wir uns verspätet, und sie ist jetzt ärgerlich?"
Auf das Klingelzeichen brach der Gesang ab. Die Mutter öffnete die Türe, ein strahlendes Leuchten im Gesicht. "Kommt rein, ich habe den Baum schon angezündet!"
Das Zimmer war - wie in den Kindheitstagen - warm, glänzend, duftend. Schweigend standen alle, schauten in die Krippe, in die Lichter der Kerzen, das sich in der aufsteigenden Wärme leicht bewegende Lametta ... Und war vorher alles Kälte und Unbehagen, so war jetzt alles voller Wärme und Gemütlichkeit.

"Wollt ihr nicht eure Geschenke anschauen?" Mutter ergriff die beiden bei den Armen und führte sie zum Gabentisch. Die Brüder zögerten etwas und tauschten einen kurzen, ratlosen Blick aus, der zu sagen schien: Wieso denn jetzt schon Gabentisch, da stand doch früher immer Weihnachtsevangelium und Krippensingen auf dem Programm? Mutter aber schien unbeirrt und völlig gelöst und heiter. Nachdem die Geschenke ausgetauscht und besichtigt waren, legte sie eine Schallplatte auf und sagte: "Im Kühlschrank stehen belegte Brote, ist jemand so nett und holt sie? - Ich bin ja lernfähig", fügte sie lächelnd hinzu. "In: letzten Jahr habt ihr gesagt, die üppigen Mahlzeiten wären euch zuviel, und ohne den ganzen Arbeitsaufwand hätten wir viel mehr Zeit füreinander. Das stimmt. Wer holt eine gute Flasche aus dem Keller?"

Die Wurstbrote schmeckten gut, trotzdem war da etwas, was die Bissen nicht so recht rutschen ließ ... An Mutter konnte, es nicht liegen, die sprudelte nur so vor ungebremster Erzählfreude und schien den Abend mit vollen Zügen zu genießen. "Aber ich rede die ganze Zeit", unterbrach sie sich schließlich. "Was ' gibt es bei euch?, erzählt doch mal!" "Ach Mutter, weißt du, wir sind noch etwas betroffen von den Veränderungen, die wir eben auf dem Spazierweg festgestellt haben: Das Fachwerkhaus der alten Übertor abgerissen, die Weiden sind weg, und sogar den Bach gibt es nicht mehr."

"Es hat sich soviel verändert, und irgendwie ist alles kälter und hässlicher geworden", fügte der Bruder hinzu.

Eine Weile saßen sie schweigend. "Mutter, was hast du weiter vor?" Hans versuchte einen neuen Gesprächsbeginn, "jch meine: wie geht es jetzt weiter in deinem Programm?"
Eine kleine, etwas peinliche Pause entstand.
"Ich habe kein Programm für euch", sagte die Mutter schließlich leise. "Ihr habt mir letztes Jahr vorgeworfen, ich zwänge euch zu einer Art des Feierns, die längst nicht mehr die eure wäre. Das muss und kann ich akzeptieren. So will ich euch sagen, wie ich für mich Weihnachten feiern will: Ich werde nachher in die Mette gehen und morgen ausschlafen. Ihr könnt zur Kirche mitkommen oder hier bleiben - wie ihr wollt. Ihr habt mir letztes Jahr gesagt, die üppigen Mahlzeiten belasteten euch nur, und da mir selber daran nichts liegt, habe ich diesmal ganz darauf verzichtet und somit viel mehr freie Zeit. Vielleicht essen wir morgen zu Mittag Schinkentoast? Wenn ihr wollt, können wir dann gemeinsam etwas spazieren gehen. Am Abend, wenn ihr dann wieder weg seid, wird eine Freundin mit ihrer Blockflöte kommen." Sie sah fast etwas verlegen, aber sehr glücklich aus, als sie nach ein paar Minuten des Schweigens fortfuhr: "Wenn wir dann nicht in den Spiegel schauen, fühlen wir uns wie in unserer Jugend ..., wir singen einstimmig, zweistimmig, mit Klavier, mit Flöte, lesen uns dann gegenseitig Weihnachtsgeschichten vor - und lassen dabei all unsere kitschigen, nostalgischen. Weihnachtsgefühle zu. Es tut uns einfach gut - und glaubt nicht, dass ich deswegen weniger an die gedacht hätte, denen es Weihnachten nicht so gut geht wie uns."

"Das wissen wir von dir, Mutter, aber" - Martins Stimme klang unsicher -, "wollen wir nicht vielleicht jetzt doch etwas gemeinsam singen? Du tust es doch gerne, oder?"

Auf Mutters Gesicht trat ein bestimmter, ablehnender Zug. "Nein, ihr sollt nichts tun, was, ihr nur mir zuliebe tut. Außerdem - selbst wenn ich wollte, könnte ich gar nicht mehr unbefangen mit euch so feiern, wie wir das früher immer getan haben, als ich noch dachte, dass es euch genauso viel Freude macht wie mir." "Irgendwie hat es uns wohl auch Freude gemacht....", lenkte Hans ein, aber die Mutter blieb hart.
"Glaubt ihr, selbst wenn ich euch den Gefallen tun wollte - ich könnte jetzt gar nicht. Man kann eine gefällte Linde nicht plötzlich wieder aufrichten, wenn man nachträglich zu der Meinung gekommen, ist, dass sie doch eigentlich ganz hübsch aussah. Ebenso wenig lassen sich ausgerottete Frösche und Vögel plötzlich wieder einbürgern, lässt sich ein planierter Bach wieder zu einem natürlichen ungezügelten Gewässer machen - und lässt sich eine alte Tradition wieder herstellen, wenn sie einmal kaputtgemacht worden ist."

Eine Weile saßen alle ganz still, sahen auf ihre Weingläser, in deren Rund sich der Weihnachtsbaum mit all seinen Kerzen verhalten leuchtend vervielfältigte, und hörten den Kinderstimmen zu, die aus dem Plattenspieler drangen: Oh, du fröhliche ...

"Das war kein Vorwurf an euch, glaubt mir das bitte", ließ sich Mutters Stimme wieder vernehmen. "Ich gebe zu, dass mir eure Kritik letztes Jahr hart angekommen ist. Ihr habt eure Bedürfnisse und Wünsche, und ich habe meine. Ich weiß jetzt sogar ganz deutlich, wie das aussieht, was ich für mich will und brauche. Für mich ist das alles ganz in Ordnung so." Nach einer kleinen Pause fügte sie leise hinzu:

"Und ich hoffe, für euch auch ......"

Lydia Strzebniok

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