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Alt 14.09.2004, 00:10
Gast
 
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Standard Umgang m.d. Wunsch

Liebe Liz,

Dein Dilemma scheint mir vertraut. Vielleicht tut es Dir gut, in dieser Situation Erfahrungen zu lesen, die keinen Rat an Dich enthalten.

Nach einem langen Tag, ich hatte Feierabend auf Station, rief mich ein Patient ins Zimmer, der schon lange lungenkrank dort lag. Er bat mich, ihn zu rasieren. Ich sagte ihm, dass ich gerade dabei sei zu gehen, versprach, ihn morgen früh als erstes zu rasieren. Er schaute mir direkt in die Augen und sagte nur: Bitte. Morgen bin ich tot, und ich möchte nicht unrasiert tot hier liegen.

Ich rasierte ihn. Als ich am nächsten Morgen auf Station kam, war sein Zimmer leer. Er war in der Nacht gestorben.

Meine Großmutter wartete mit dem Sterben, bis wir aus dem Urlaub kamen, verabschiedete sich von uns und starb in der Nacht darauf.

Mein Vater hatte Darmkrebs. Er überlebte Diagnose und Operation vier Jahre. Er lebte in einer anderen Stadt. Als er merkte, dass er sterben würde, kam er zu uns. Ich begleitete ihn mit meiner Mutter beim Sterben. Wenige Wochen später war er tot.

Ich habe viele Menschen sterben erlebt. Sehr viele wussten, dass sie jetzt sterben würden. Und die, die lange gelebt oder lange gelitten hatten, wollten fast alle sterben.

Meinem Freund wurden inoperable Gehirntumore diagnostiziert. Er erblindete fast zeitgleich mit der Diagnose und lag im Krankenhaus. Er hatte Angst, sehr schrecklich zu sterben, und er bat darum, ihm eine Möglichkeit zu verschaffen, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Wir sprachen darüber. Die Entscheidung, es zu tun, blieb ihm und mir erspart. Während er auf eine Zweitmeinung wartete, starb er.

Meine Mutter hatte zweimal Brustkrebs. Sie kämpfe und überlebte mit der Hilfe guter Ärzte, der Hilfe meines Bruders und meiner Hilfe. Jetzt ist sie 95.

Liebe Liz, meine Worte sind nüchtern berichtend. Ich schreibe so, nicht obwohl, sondern weil ich betroffen bin und mich niemals ohne tiefe Gefühle daran erinnere.

Für den anderen da zu sein: das heißt für mich zu erkennen, wann es gut und nötig ist, ihm Mut zu machen zum Kampf ums Leben, ihm darin beizustehen – und wann es gut und nötig ist zu akzeptieren, dass der Kampf zu Ende geht. Wenn ein Mensch dieses Ende selbst sieht und dann auch will, ist es nicht meine Aufgabe, den Kampf an seiner Stelle zu führen und dazu beizutragen, sein Leiden zu verlängern. Es ist schwer, aber wichtig, zu erkennen, wo die Grenze ist zwischen einem Handeln aus Liebe zu dem Kranken und einem Handeln, weil wir selbst Angst haben, ihn zu verlieren.

Ich kenne Willy nur aus dem KK und aus einem Film über eine Armutskonferenz, ich kenne ihn nicht persönlich. Ich habe nicht erlebt, wie er selbst so gesprochen hat, wie Du erzählst. Ich kann mir eine Vorstellung machen von seinem Leiden, aber ich kenne es nicht aus eigenem Miterleben. Deswegen kann ich nicht wissen, was genau er mit seinem Verhalten und seinen Worten ausdrückt. Noch weniger kann ich Dir einen Rat geben.

Aber ich kann sagen: Ich wünsche mir, dass meine Lieben es erkennen und deuten können, wenn es mir einmal so ergeht – und dass sie mir nicht nur helfen, um mein Leben zu kämpfen, sondern mich auch gehen lassen, wenn es meine Zeit ist zu gehen. Ich möchte nicht auf meinem Sterbebett zu einem dann sinnlos geworden Kampf aufgerufen werden, der nur mein Leiden verlängert.

Liebe Liz, ich neige mich vor Willys und Deinem Schmerz und wünsche Euch, dass ihr noch miteinander klären könnt, was Willy wirklich meint und will, und dass ihr auch über dieses Gehenlassen sprechen könnt – oder dass Du den Zeitpunkt dafür erkennst, wenn Sprechen nicht mehr möglich sein sollte.

Wenn Du mir schreiben möchtest: Du hast meine Mail-Adresse.

Christian H.
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