Einzelnen Beitrag anzeigen
  #206  
Alt 19.09.2010, 18:32
yagosaga yagosaga ist offline
Gesperrt
 
Registriert seit: 29.04.2010
Ort: Braunschweig
Beiträge: 215
Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Zitat:
Zitat von annika33 Beitrag anzeigen
möchte mich auf diesem Weg erkundigen, wie es Dir so geht. ... Wie verhält es sich denn mit den "Nachläufern" der Chemo. Hast Du die gröbsten Nebenwirkungen unterdessen überstanden, oder spürst Du dahingehend noch Beeinträchtigungen? Dir und Deiner Familie, lieber Ecki, wünsche ich ein schönes Wochenende.
Hallo Annika,

die Nachwirkungen der Chemo halten immer noch an. Immer noch Schwäche, aber erträglich. Neuropathie in Fingern und Füßen, aber das wird noch Monate andauern, falls sie wirklich weg geht.

Schönes Wochenende?? - Heute geht ein spannendes und ausgefülltes Wochenende für mich zu Ende wie ich es hier selten erlebt habe.

Zur Zeit gastiert bei uns im Ort ein kleiner Zirkus, der als Familienunternehmen geführt wird. Am Freitag nachmittag gingen wir mit unserer Kleinsten zur Vorstellung. Es gab viel Tier- und Kleintiernummern und einige Clownnummern, die von zwei 14- und 15jährigen Brüdern aufgeführt wurden, dazu die kleine 10jährige Schwester, die durch eine kunstvolle Akrobatik überzeugte. Natürlich durften auch eine Westernnummer mit Messerwerfern und Jonglieren nicht fehlen. Kurzum, ein unterhaltsamer Nachmittag. Ich selbst hätte mich über noch mehr Clown-Nummern gefreut.

Gestern am Samstag gab es bei uns eine kleine Familienfeier, u.a. Hochzeitstag, den wir im Hotel- und Restaurant, begingen, wo wir vor 23 Jahren auch unsere Hochzeitsfeier hatten. Abends nahm ich noch beim 30jährigen Abitreffen teil, das diesmal in der Mensa unserer Schule stattfand. An der Eingangstür öffnete mir mein Lateinlehrer, den ich 1973-75 von der 7. bis zur 8. Klasse hatte, wir sahen uns an, er erkannte mich zuerst wieder (trotz Chemo-Glatze), aber dann erkannte ich ihn auch. Auch andere Lehrer waren vertreten, mein Mathelehrer aus der 9. und 10. Klasse (1975-77), der Englischlehrer, der Sportlehrer aus der 10. Klasse. Ich war überrascht, dass sie nicht nur mich, sondern auch viele andere noch kannten, aber wir waren ja damals die ersten Klassen gewesen, die sie hatten im Berufsstart. Prägende Erfahrungen.

Zwei Abitreffen hatte ich vorher bereits mitgemacht von dreien. So gibt es inzwischen ehemalige Mitschülerinnen und Mitschüler, mit denen ich nur im Kontakt bin, wenn es gilt, ein neues Treffen vorzubereiten. Aber es gibt auch andere Mitschülerinnen und Mitschüler, mit denen ich während der Schulzeit kaum Kontakt hatte, die ich sozusagen erst näher durch die Abitreffen kennen- und schätzengelernt habe. Dank Email ist der Kontakt leichter zu halten, und hin und wieder trifft man sich oder besucht sich auch gegenseitig. Die eigenen Kinder sind immer ein Gesprächsthema.

Lange Zeit war es unsicher, ob ich überhaupt teilnehmen konnte. Aber auf der Rückfahrt von der Feier brachte mich die Familie in der Schule vorbei, und ich wollte dann später ein Taxi nehmen.

Viele Mitabiturientinnen und Mitabiturienten freuten sich, dass ich trotz Krankheit gekommen war. Ich war auch sehr gespannt darauf, wer da sein würde und wie sich die ehemaligen Klassen- und Kurskameradinnen und -kameraden verändert haben. Wir sind jetzt alle Ende 40, Anfang 50, im "gesetzten Alter". Viele haben in ihrem Leben nach der Schulzeit Überraschungen erlebt und sind in Bereichen "gelandet", die sie sich vorher nicht zugetraut hätten. Viele Begegnungen waren kurz, weil alles ständig in Bewegung war. Mit anderen Teilnehmern hätte ich gern noch länger gesprochen. Aber es ist bei einem solchen Anlass halt so, dass man in der Fülle der Begegnungen nicht allen gerecht werden kann. Oft muss es ausreichen, dass man sich nur sieht.

Aber es gab auch Überraschungen: die Begegnung mit einer ehemaligen Mitschülerin, für die ich in der 7. Klasse heimlich schwärmte (sie weiß das bis heute nicht), und damals träumte ich davon, ich könnte sie mal ansprechen, und sie würde mal mit mir reden..., (ich glaube, wenn sie es damals getan hätte, ich wäre sicher tomatenrot vor Aufregung geworden). Diesmal sah ich sie zum ersten Mal nach vielen Jahrzehnten wieder und war plötzlich innerlich so aufgeregt wie damals. Sie setzte sich zu uns an den Tisch, und bald waren wir in ein tieferes Gespräch verstrickt, das für uns beide anregend und interessant war. Wir tauschten uns über unsere Kinder aus und die beruflichen Wege. So gehen auch spät noch Jugendwünsche in Erfüllung... Aber das ist ja gerade das Interessante bei solchen Klassentreffen, dass man eine prägende frühe Lebensphase gemeinsam miteinander erlebt hat, und sich dann noch einmal trifft mit viel Abstand, und sich gegenseitig noch einmal völlig neu entdeckt und voneinander überrascht ist.

Mein ehemaliger Sportlehrer war sehr erschrocken von meiner Krebsdiagnose. Reflexartig versuchte ich ihn zu trösten. In Sport hatte ich immer Schwierigkeiten, weil ich damals schnell in die Länge wuchs und meine Bewegungen damals ungelenk und schlacksig wirkten. Es reichte immer nur für eine vier in Sport. Bei ihm in der 10. Klasse kam ich erstmals besser zum Zuge, und ich erinnere mich noch, dass er mich einmal in einer Seitenbemerkung der Klasse gegenüber in Schutz nahm. Eine winzig-kleine Sache, die schnell bei den anderen in Vergessenheit geriet. Ich erinnere mich heute nicht mehr an die Sache selbst und an den Wortlaut. Aber dass er das tat, dafür bin ich ihm heute noch dankbar. Eine kleine Sache mit großen Wirkungen im Leben.

Einige, die von meiner Krebserkrankung gehört hatten, verströmten Zuversicht: Das wird schon wieder... Oder erzählten mir von anderen Krebspatienten, die wie durch ein Wunder geheilt wurden. Andere hatten Krankheitsverläufe erlebt, die tödlich endeten. Ein ehemaliger Mitschüler fragte mich, ob ich jetzt schon auf "Abschiedstour" sei. Ich sagte unumwunden Ja. Der Gedanke, es könnte das letzte Mal sein, dass man sich sieht, ist immer dabei. Natürlich kann es jeden treffen, durch einen Unfall zum Beispiel. Aber bei Krebs ist es ja auch ein Abschied mit Ansage, das macht den Unterschied aus.

Sehr lange konnte ich nicht bleiben. Man redet ja sehr viel miteinander, mit dieser und mit jenem, und im Flug sind drei Stunden verstrichen. Danach machte sich Erschöpfung bemerkbar. Ich hätte noch weitere drei Stunden bleiben können.

Mein Lateinlehrer versprach mir, mich zum Taxistand am Bahnhof vorbei zu bringen, aber als ich zu ihm ins Auto stieg, meinte er, er führe nicht zum Taxistand, er mache noch eine "kleine Runde"... die "kleine Runde" führte zu mir nach Hause, es waren immerhin über 50 km. gewesen, das war total lieb gewesen.

Heute morgen gab es noch einen weiteren Höhepunkt: der erste Gospelgottesdienst bei uns in der Kirche. Seit 20 Jahren hatte ich mir schon gewünscht, mal einen Gospelchor in der Gemeinde zu haben, der auch den Gottesdienst bereichert. Freilich habe ich oft mit der Gitarre Gospels und moderne Lieder mit der Gemeinde gesungen, aber das ist immer noch etwas anderes als ein professioneller Chor. Im Juni hatte bei uns durch Zufall ein Gospelchor unter dem Dach des Gemeindehauses Unterschlupf gefunden, der seitdem wöchentlich probte. Geleitet wird der Chor von einem Farbigen aus den USA, der mit Power und Stimmgewalt den Chor motivierte. Schon bei dem ersten Lied zu Beginn des Gottesdienstes spürte ich: dieser Chor weiß, wo das Gaspedal sitzt. Die Kirche war voll besetzt, die Gemeinde klatschte bald mit bis die Kirche wackelte, stand auf zu den Liedern, und im Flug waren anderthalb Stunden verstrichen ohne dass es uns zu lang geworden wäre.

Heute abend aber spüre ich deutlich, wie viel Kraft dieses ausgefüllte Wochenende auch verbraucht hat, obwohl es alles sehr schöne und aufregende Erlebnisse waren, bei denen ich mich zeitweise völlig vergessen konnte. Und etwas Besseres hätte mir nicht passieren können.

Beste Grüße
Ecki