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Alt 11.11.2015, 17:16
Lunacat_91 Lunacat_91 ist offline
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Standard AW: Mitte 20 und anders als alle anderen

Zunächst einmal wieder tausend Dank für eure Antworten und eure lieben Worte.

Ich sitze hier. Unfähig, mich aufzuraffen. Ich verschwende meine kostbare Zeit am Handy, auf YouTube... Und ich glaube, es geht mir dabei ähnlich wie Christoph. So oft hatte er ein schlechtes Gewissen, wenn er Dinge, wie etwa Referatsvorbereitungen, aufgeschoben hat. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Ich sollte an meiner Bachelorarbeit arbeiten... Recherchieren, Schreiben, Rechnen. Abgabe ist in 4 Wochen. Rechnen... Es geht um Statistik, Wahrscheinlichkeiten, Zusammenhänge, Kausalitäten. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Christoph diese Krankheit bekommt? Sich das zu verdeutlichen, macht alles noch viel tragischer. Welche Todesursache, welche Krankheiten sind in diesem Alter noch unwahrscheinlicher? Und hier sitze ich und berechne statistische Zusammenhänge. Es ist abscheulich und abstoßend. Christoph war selber ein, wie er selber sagte, "Statistik-Gläubiger". Das ist es eben, was uns in den Sozialwissenschaften eingebläut wird: An Wahrscheinlichkeiten zu glauben. An Mathe. Viele haben keinen Sinn dafür und entdecken eher die qualitativen Methoden für sich. Sie halten nichts von Statistik, Verallgemeinerungen. Christoph hingegen hatte sich voll und ganz den quantitativen Methoden verschrieben. Der Junge, der Mathe in der Schule so sehr hasste, schreibt nun Einsen in Statistik. Er war so ehrgeizig und nie mit sich selbst zufrieden. Und als würde das Schicksal ihn verarschen wollen, schickt es ihm eine der unwahrscheinlichsten Krankheiten, die existieren. Aller Statistik zum Trotz. 22. Magenkarzinom, Peritonealkarzinose. Inoperabel. Aggressiv. Die einzige Statistik, die dann zutraf: Die durchschnittliche Lebenserwartung nach der Diagnose. 6 Monate. Sie tritt ein. Oktober 2014 bis März 2015. Christoph war unter den wenigen Prozent, die diese Krankheit bekommen. Er war unter den wenigen Prozent, die kein Adenokarzinom haben. Er war unter den wenigen Prozent, die für keine Studien in Frage kommen. Aber er war im Durchschnitt was seine Überlebensdauer anging. Ein schlechter Scherz, wenn es nicht so beschissen ungerecht wäre. Jemand, der sein Leben lang außergewöhnlich, nicht durchschnittlich war, der eine unfassbar unwahrscheinliche Krankheit bekommt, liegt in der letzten Statistik, der Überlebenserwartung, im Durchschnitt. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar. Wir haben versucht, nicht mehr an Statistiken zu glauben. Wir haben uns gesagt: Wenn Christoph, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit bekommt, dann kann er sie auch, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, besiegen. Zum Schluss hat sie gesiegt.
Wie um alles in der Welt, soll ich mich angesichts einer solchen Erschütterung auf Dinge wie die Bachelorarbeit konzentrieren. Wie dafür motivieren? Woher soll Motivation kommen, wenn man gesehen hat, wie schnell das Leben zerbrechen kann, weggespült werden kann? Wenn man gesehen hat, dass auch Anfang 20 plötzlich nichts anderes mehr wichtig sein kann außer das blanke Überleben. Krebs macht vor keinem Alter Halt. Es gibt keine Garantie. Für nichts. Und Statistik ist... fuck Statistik.
Am Samstag war die Absolventenfeier für meinen Jahrgang an der Uni. Normalerweise wäre ich auch dort gewesen, Christoph im "Publikum", hätte mein Bachelorzeugnis bekommen. Normalerweise. Nichts ist mehr normal. Ich brauche eine Pause von diesem Leben, das sich nicht mehr wie mein Leben anfühlt. Doch jedes Mal, wenn ich sowas denke, habe ich ein schlechtes Gewissen. Christoph hätte gerne noch ein Leben gehabt. Wenigstens ein paar Jahre, meinte er mal.

Breaking Bad, eine von Christophs Lieblingsserien... Er hat sich nach der Diagnose den Walter White-Jutebeutel gekauft. Es hat mir das Herz zerrissen.
02:26 bis 03:29 https://www.youtube.com/watch?v=8BYhzRW4qDM
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Now I can´t believe that it´s been five years
Since we both stood here, looking out at this city
With minds so bold and hearts so clear
(First Aid Kit)

Je mehr du gedacht hast, je mehr du getan hast, desto länger hast du gelebt.
(Immanuel Kant)


Christoph (1992-2015) - Ich vermisse dich

Geändert von Lunacat_91 (11.11.2015 um 20:27 Uhr)
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