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Alt 08.11.2016, 10:03
Dream Dream ist offline
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Standard AW: Lymphdrüsenkrebs mit 81

Danke für eure unterstützenden Antworten, lotol und mimi.

Ich bin die 48-jährige Tochter, bei der meine Mutter auch lebt. Wir sprechen sehr offen darüber. Meine Mutter hat große Angst vor den Strapazen einer medizinischen Behandlung wie Chemo- und Strahlentherapie. In ihrer Patientenverfügung drückte sie sich dahingehend klar aus. Sie möchte vor allem keine Schmerzen. Ihr liegt nicht primär an lebensverlängernden medizinischen Maßnahmen, sondern an der Qualität ihres Lebensabends ohne Schmerzen. Sie sagte schon früher immer, dass sie nicht lange am Tropf hängen will im Alter, sondern lieber sterben möchte, auf natürliche Weise wie zu Zeiten, als die Medizin das Leben noch noch nicht künstlich in die Länge zog. Meine Mutter erklärt mir auch jetzt, dass sie das Recht habe, Nein zu sagen und sterben zu dürfen. Allerdings ist sie gegen Sterbehilfe, da es gegen ihre Religion (Christin) verstößt, d. h. sie hat keine Suizidgedanken und möchte auch keine aktive oder passive Sterbehilfe. Sie möchte aber auch keine künstliche Verlängerung ihres Lebens mit dem Preis, schmerzvolles Leid zu erfahren.

Sie möchte niemandem zur Last fallen, nicht einmal einen Grabstein dürften wir ihr kaufen, Erdbestattung will sie aufgrund ihrer Religion, doch ein einfaches Kreuz reiche für sie, sagt sie. Sie definierte sich immer sehr über ihre Nützlichkeit für ihre Familie. Deshalb sagte ich ihr, dass ich sie noch brauche. Noch ist unser Haus nicht verkauft. Ihr frühzeitiger Tod würde mich vor große Probleme stellen und sei einfach nicht passend, um so ihre Art des Denkens zum Leben und Kämpfen zu aktivieren. Das erklärte ich ihr, nachdem alle anderen anderen Argumente, nämlich dass sie uns auch krank lieb und teuer ist, nicht so richtig wirkten. Geradezu zerknirscht will sie nun schauen, wie weit sie die Behandlungen mitmachen kann, denn sie will mich nicht im Stich lassen, das ist auch eine ihrer Sorgen als immerfürsorgliche Mutter.

Ich werde sie zu allen ihren Terminen begleiten. Für mich stellt sich die Frage, ob sie das alles überhaupt durchsteht. Sie hatte immer die Kontrolle über ihr Leben, es ist sehr schwer für sie, nun auf einmal mir und den Ärzten zu vertrauen und ein Stück weit das Steuer abzugeben. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass sich ihr Lymphdrüsenkrebs langsam entwickelt und keine aktive Behandlung (außer ein paar Medikamenten) notwendig ist. Es würde reichen, wenn sie wenigstens noch ein paar Jahre dazugewinnen würde, jedoch ohne großes Leid und durchgängige Bettlägrigkeit.

Derzeit leidet sie unter Appetitlosigkeit, Kurzatmigkeit und teilweise Verwirrtheit, auch depressiven Zuständen der Überforderung dieser Situation gegenüber. Die geschwollenen Lymphknoten waren schon sichtbar im bildgebenden Verfahren. Die Ärzte äußerten sich von der Diagnose überzeugt, relativierten allerdings später wieder. Noch muss weiter abgeklärt werden, aber die Bösartigkeit scheint festzustehen. Ich versuche, meiner Mutter gut zuzusprechen, noch müsse sie sich zu nichts entscheiden, das sicherten ihr auch die Ärzte zu. Es gehe jetzt erstmal um eine klare Abklärung. Wenn sie ohne Behandlung noch 3 Jahre leben könnte, würde ich ihren Wunsch wohl unterstützen, aber wenn sie ohne Behandlung in wenigen Monaten stirbt, käme es mir falsch vor, zu früh. Ich entlaste sie, wo ich kann. Ich möchte, dass sie möglichst glücklich ist am Abschluss ihres Lebens. Ich könnte es nicht verantworten, sie in eine leidvolle Situation gebracht zu haben, wo sie sich aufgrund ihrer Kraftlosigkeit nicht mehr selbst befreien kann, nur weil ich sie nicht gehen lassen kann. Da sie sehr fromm ist und jeden Tag in der Bibel liest und ganz fest an ein Weiterleben nach dem Tod glaubt, hat sie keine Angst vor dem Tod, ganz im Gegenteil scheint er eher ein Erlöser zu sein für sie. Ich kann das nicht so empfinden, obwohl ich ihren Glauben teile. Trotzdem erscheint mir ihre Einstellung doch zu radikal und zu kampflos aus der Angst und depressiven Stimmung heraus.

Da sie ihre akute Lungenentzündung erst vor kurzem überstanden hat, vermute ich bei ihr einfach auch eine gewisse Geschwächtheit und Überforderung. Sie bräuchte noch Zeit, die Lungenentzündung auszukurieren und den Schock der neuen Diagnose zu verarbeiten. Es ist sehr schwer mitanzusehen, wie aus meiner zeitlebens starken Mutter auf einmal so viel Hilflosigkeit und Angst spricht. Nun will ich für sie stark sein. Es braucht allerdings meinerseits auch viel Einsatz, denn ich bin selbst nicht ganz gesund und leide unter einer chronischen Schmerzkrankheit, was meine Mutter weiß und für sie auch ein Grund ist, keine Belastung für mich sein zu wollen. Deshalb darf ich keine Schwäche zeigen, sondern muss jetzt möglichst stark sein, um ihr keinen Grund zu verschaffen aufzugeben aus ihrem selbsteliminerenden Gedanken heraus.

Ich liebe sie sehr und genieße es wirklich, Zeit mit ihr zu verbringen. Ich bin meine chronischen Schmerzen gewöhnt, schon seit Jahrzehnten. Was mich belastet, ist ihr Aufgebenwollen und ihre gedrückte Stimmung. Wenn sie wenigstens einfach im Jetzt leben könnte und ihre Mutlosigkeit überwände, sie noch das jetzige Leben genießen könnte, solange es währt. Aber auch das kann sie nicht, auch wenn mein "Coaching" etwas wirkt. Es ist schwer für mich, sie leiden zu sehen, ihr nicht die Sorgen ersparen zu können um sich selbst und die Familie. Sie kann einfach nicht loslassen und wenigstens das Jetzt genießen, während ich sie umsorge, sie grübelt und grübelt. Ich wünschte nur, dass sie sich keine Sorgen machen müsste, ich ihr ein sorgenfreies Familienleben präsentieren könnte, aber ich habe nun mal auch meine Grenzen, auch wenn ich kämpfe und sogar Hilfe suche für die Familie. Ich versuche, ihr trotzalledem das Positive im Jetzt zu zeigen und sie aktiv aufzubauen, ihr die Sorgen zu nehmen.
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LG Dream

Geändert von Dream (08.11.2016 um 10:23 Uhr)