Einzelnen Beitrag anzeigen
  #8  
Alt 07.07.2008, 16:10
chaosbarthi chaosbarthi ist offline
Registrierter Benutzer
 
Registriert seit: 08.12.2005
Ort: Ort bei Kiel
Beiträge: 402
Standard AW: Hilfe!!! - Mein Vater erkennt die Gefahr nicht

Liebe Sabrina,

ich kann Deinen Vater verstehen. Ich konnte mich gegen mein Stoma nicht zur Wehr setzen, weil ich schon unter dem Messer war, als die Entscheidung fiel. Danach war ich, 45 Jahre alt, wild entschlossen, von unserer örtlichen Hochbrücke zu springen, um das Dilemma zu bereinigen....

Ich habe mich im Krankenhaus dagegen gewehrt, das Stoma zur Kenntnis zu nehmen und mich geweigert, es selbst zu versorgen. Damit war ich schön blöd, denn die Lehrzeit hätte nachfolgend ein paar Sch***e-Unfälle verhindern können.

Sabrina, Du kannst Deinen Vater nicht mit Worten bekehren. Die Erfahrung, mit einem Stoma zu leben, muss man selber machen. In erster Linie lebe ich für mich selbst und wenn mein Leben mir nicht mehr als lebenswert erscheint, muss es halt enden (meine persönliche Meinung).

Ja, so sah es für mich am Anfang aus. Und denn gibt es da noch diesen doofen Spruch, der besagt, dass es immer anders kommt, als man denkt.... Für mich kam es anders: Ich sollte infolge von OP-Komplikationen mehrfach sterben, womit ich mich vor dem Hintergrund meiner vermeintlichen Perspektiven gut abfinden konnte...

Naja, und jetzt - 3 Jahre später - geht es mir echt gut. Ich arbeite wieder Vollzeit, kann machen, was ich will und mein Stoma stört mich nicht mehr. Im Gegenteil, ich werde nicht mehr angemault, weil ich gepupst habe und muss mich nie wieder auf ein dreckiges Klo setzen.

Ich befinde mich zudem in guter Gesellschaft oder anders gesagt, es ist gesellschaftsfähig ein Stoma zu haben: Fred Astaire hatte eines, Napoleon soll ein Stoma gehabt haben und die Queen-Mum hat über 50 Jahre mit einem Stoma gelebt. Viele 1.000 ganz junge Menschen, teils noch im Teenie-Alter - entscheiden sich jedes Jahr freiwillig für einen Seitenausgang, weil sie ihre entzündlichen Darmerkrankungen nicht mehr ertragen können und sich den Darm entfernen lassen. Unser Dachverband, die ILCO, hat bundesweit mehr als 100.000 Mitglieder.... So viele Menschen, die die gleichen Probleme haben... Da soll mir mal einer sagen, dass Dein Vater das nicht schaffen könnte. Was die hingekriegt haben, kriegt er auch hin!

Vielleicht druckst Du Deinem Vater meinen ganzen Beitrag einfach mal aus?

Ich grüße ihn an dieser Stelle herzlich:

Vater von Sabrina, lasse Dich nicht unterkriegen! Du hast ein Jahr Lehrzeit vor Dir. Danach ist das Leben mit Stoma ganz normal. Es gibt Nichts, was Du damit nicht tun könntest. Du kannst Schwimmen, Bäume fällen und guten Sex haben. Ein amputierter Finger fällt mehr auf als ein Stoma. Es lohnt sich nicht, das Leben wegen so einer Lapalie wegzuwerfen. Ob wir mit unserem Krebs alt werden können, wissen wir alle nicht. Mit dem Stoma alt zu werden und - viel wichtiger - mit dem Stoma glücklich zu sein, das ist kein Problem.

Vater von Sabrina, Du hast irgendetwas richtig gemacht in Deinem Leben, denn Du bist Deiner Tochter wichtig. Werfe das nicht einfach weg. Ein Stoma ist eine Nebensächlichkeit. Wenn ich das hingekriegt habe, schaffst Du das auch!

Und wenn Du Fragen hast, schreibe mir gerne (chaosbarthi@web.de). Mitunter ist es einfacher, mit anderen Betroffenen zu sprechen, als mit der eigenen Familie. Ich weiß das sehr gut. Meine Familie musste sich über Monate damit abfinden, dass ich mit ihr nicht mehr gesprochen habe. Ich war überzeugt, dass ich es nicht überleben werde, habe nur noch dicht gemacht und im Stillen Abschied genommen.

Sabrina, drucke ihm das bitte aus. Wenn Dein Vater keinen Internet-Zugang hat, schreibe Du mir bitte eine E-Mail. Er kann mich auch anrufen oder mir auf dem Postweg schreiben. Ich würde mich freuen, wenn er mit mir in Kontakt treten würde. Ich war anfangs genauso blöd wie er (sorry, Vater von Sabrina ) und verstehe das total gut. Auch ich habe Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass das Sterben an Krebs, weil man kein Stoma will, genauso blöd ist wie Selbstmord wegen einer Brandblase.

Liebe Grüße an Euch Beide!
chaosbarthi
__________________
Sigmacarcinom 2005 (T4, G3, alles andere 0, HNPCC), Ileostoma

Nicht die Dinge selbst, sondern nur unsere Vorstellungen über die Dinge machen uns glücklich oder unglücklich.
(Epiktet, griech. Philosoph, 50-138)

Geändert von chaosbarthi (08.07.2008 um 14:21 Uhr)
Mit Zitat antworten