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Alt 23.11.2008, 17:38
Stefans Stefans ist offline
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Standard AW: Meine liebe Freundin

Hallo Irmi,

Zitat:
Zitat von Urmele Beitrag anzeigen
Man muss sie aber auch immer ein bisschen überreden um etwas zu unternehmen, wahrscheinlich strengt sie der Gedanke daran, sich fertig zu machen um rauszugehen, schon zu sehr an.
So, wie es deiner Freundin geht, wird das nicht (nur) der Gedanke sein. Sondern schlichtweg die praktische Anstrengung. Sehe ich an meiner Frau: Sie hat meist nicht mal mehr den Elan, sich zu waschen. Obwohl sie eigentlich noch könnte - bzw. "können müsste". Und wenn sie einmal wöchentlich zur Chemo muss, dann dauert das Procedere von Aufstehen, Waschen, Anziehen etwa eine Stunde. Danach ist sie so fertig, dass sie sich nochmal eine halbe Stunde hinlegen muss, bevor das Taxi kommt, dass sie in die Klinik bringt. Natürlich tut sie sich diesen Stress nicht freiwillig an, um mal kurz mit Freunden nach draussen zu gehen. Weil sie schon von den Vorbereitungen so erschöpft ist, dass sie den ganzen nächsten Tag nur noch im Bett liegt. Soll heissen: dränge deine Freundin nicht. Was für dich wie "Versauern" aussieht, ist für sie vielleicht nur "einfach Ruhe haben und sich nicht anstrengen müssen".

Zitat:
auch der Gesprächsstoff wird immer weniger, wenn man nichts erlebt.
Ich glaube weniger, dass deine Freundin das als Problem ansehen wird. Natürlich kann ich da immer nur von meiner Frau ausgehen. An "Gesprächsstoff" ist ihr nicht mehr gelegen. Im Gegenteil. Sie will niemanden mehr von ihren Freunden und Bekannten mehr sehen, weil sie das zu sehr anstrengt. Und sie will auch nicht mehr hören, wie es anderen privat oder bei der Arbeit geht, oder was sich in der Welt so tut. Zu anstrengend. Und ausserdem indirekt verletztend: alles, was sie von der "Aussenwelt" erzählt bekommt, erinnert sie nur daran, dass _sie_ eben nicht mehr fähig ist, an dem normalen Leben teilzunehmen, das für andere selbstverständlich ist.

Wie soll man das erklären? Schwierig. Stell' dir vor, du liegst seit Wochen im Bett und mühst dich alle 7 Tage extrem ab, nur um per Taxi zur Chemo zu fahren. Und dann besuchen dich Freunde, die dich nicht nur löchern, wie es dir geht, welche Behandlung du kriegst, wie die Prognose ist usw. (zu anstrengend, schon tausend mal beantwortet - und trotzdem kann es niemand nachvollziehen...) - nein, die erzählen dann auch noch von ihrem Alltagsleben. Davon, dass sie letztens auf der und der Feier versumpft sind und soo einen Kater hatten. Oder davon, dass sie Montag wieder zur Arbeit müssen, und wie sehr sie ihre Arbeit anödet. Oder von... Mein Gott! Meine Frau wäre heilfroh, wenn sie in ihrem Leben noch ein einziges mal nach einer Feier einen Kater hätte, zur Arbeit gehen könnte oder beim Einkaufen im Supermarkt von der Kassiererin blöde angemacht würde. Nichts davon wird sie noch erleben. Und was es bei ihr auslöst, wenn andere davon erzählen, sind natürlich auch Neid und Hass: die können alles so locker und berichten von etwas, was für mich unmöglich ist - und was ich nie mehr schaffen werde. Und die gehen nach Hause und leben weiter wie immer, während ich hier liege und von Woche zu Woche immer weniger kann :-(

Kann man sich nur schwer vorstellen. Aber wenn man es versucht, wird vielleicht auch klar, warum sich schwer kranke Menschen nach und nach vom "Leben draussen" und entsprechenden Kontakten zurückziehen. Weil es nicht nur physisch, sondern auch seelisch nur schwer zu ertragen ist.

Zitat:
Kuscheln und Streicheln - auch das tut deiner Frau bestimmt gut, auch wenn sie selber nicht mehr mit ihm spazieren gehen kann.
Dafür hat meine Frau ihre Katze, die ist Gold wert. Der Hund natürlich auch, aber der dient eher mir zum Trost (ich bin seine Bezugsperson und sein "Rudelführer"). Ich wüßte nicht, wie ich die letzte Zeit ohne Hündchen überstanden hätte - und v.a. dieZeit, die noch vor uns liegt.

Zitat:
Wie lange ist denn deine Frau schon erkrankt?
Anfang 2007 gab es bei der Gyn.-Untersuchung Krebsverdacht, dann sofort Klinik und Ablatio. Prognose gut, weil langsam wachsender und hormonrezeptiver Tumor (AHT ausreichend). Behandlung OK, ReHa, seit Ende 2007 ist sie wieder teilzeit arbeiten gegangen. Keine Beschwerden, alle Nachsorgeuntersuchungen ohne Befund. Im Juli 08 dann scheinbar eine Darmgrippe. Durchfall, Übelkeit, über Wochen. Darmgrippe war's nicht, sondern Metastasen in Nebennieren und Lymphsystem. Seither geht's bergab, und zwar schnell. Diasgnostik ohne Ende, Klinikaufenthalte, schlechte Prognose. Metastasen schnell wachsend (in den Nebennieren ca. 1 cm pro Monat), Tumor nicht hormonzeptiv. Auch im Lymphsystem kann man praktisch zugucken, wie die Metastasen-Knubbel wachsen. Seit 1 Monat palliative Chemo.

Remission wäre ein unerwarteter Glücksfall. Darum geht es im Alltag auch nicht. Da geht es darum, dass meine Frau in den vergangenen Monaten 20 kg abgenommen hat, und das weiter tut, weil sie kaum noch was isst und trinkt. Und immer mehr Morphium gegen die Schmerzen nehmen muss. Und immer weniger selbst machen kann. Die Schmerzen sind nicht das Problem. Da verschreibt heutzutage (zum Glück) jeder Onkologe soviel Morphium wie nötig. Aber Morphium geht natürlich auch auf den Kopf. Sudoku-Rätsel lösen? Schon lange nicht mehr möglich. Buch lesen? Geht noch, wenn's was ganz Leichtes ist (Kinderbücher). Konzentrieren oder Denken? Vergiss' es. Meine Fau kommt am Dienstag von der Chemo, die sie immer dienstags hat, und fragt mich eine Stunde später: "morgen ist doch Freitag, oder?"

Diese Woche etwas Neues: ich muss meiner Frau nicht nur ihre vielen Tabletten vorsortieren und bereit legen - sondern auch morgens, mittags, abends und nachts kontrollieren, ob sie die wirklich brav nimmt. Sonst vergisst sie das seit neuestem, und das darf nicht sein (v.a. bei den Morphium-Tabletten nicht).

Zitat:
ich wünsche deiner Frau und dir, dass die guten und schönen Tage überwiegen
Schöne Tage gibt's schon seit längerem nicht mehr, gute Tage immer weniger :-( Ein "guter Tag" ist für meine Frau einer, an dem sie keine starken Schmerzen hat und nicht gleich kotzt, wenn sie irgendwas isst oder trinkt. Und für mich einer, an dem ich in der Lage bin, ein posting wie dieses zu schreiben, ohne dabei Heulkrämpfe zu kriegen.

Diese Krankheit ist schlimm, böse und bitter zu ertragen. Von daher: habe bitte Nachsicht mit deiner Freundin, wenn sie nicht dem entspricht, was du von ihr erwartest (oder nicht tut, von dem du meinst, was ihr gut tun würde).

Viele Grüße,
Stefan
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