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Alt 18.06.2002, 09:06
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Standard Sie will das ich gehe!!

Morgen zusammen,
ich erzähle Euch jetzt mal so eine schöne "Stell-Dir-mal-vor"-Geschichte, ja? - Die ist zwar ziemlich krass, aber wenn Ihr eine gute Fantasie habt und Euch gut rein denken könnt, ... "fühlt" Ihr da ein gutes Stückchen mit.

Also. (Ich schreibe jetzt in Du-Form, damit Ihr Euch persönlich angesprochen fühlt!)

Es ist ein stinknormaler Wochentag, hm? Du gehst Deinem üblichen Alltagstrott hinterher. Das einzige, was heute ein bisschen anders ist als an den übrigen Tagen, das ist der Arzttermin um 16.00 Uhr, den Du da hast. Ganz gewöhnliche Kontrolle, weil Du da letzthin eine hässliche Grippe hattest.
Sowie Du zum Arzt gehst, (welcher wie immer sehr freundlich zu Dir ist), sagt der Dir, dass die letzte Blutuntersuchung nicht so ganz in Ordnung sei.
Da machst Du Dir ein bisschen Sorgen, hm? Naja, was kann da denn nicht in Ordnung sein? Du fühlst Dich doch völlig gut jetzt!
Der Arzt fragt Dich, ob Du möglicherweise mal Blut im Urin oder im Stuhlgang hattest.
Nö! Hattest Du nicht.
Der Arzt fragt Dich, ob Du Dich gut ernährst?
Ja klar, sagst Du. (Jedenfalls glaubst Du das.)
Der Arzt fragt Dich noch weitere Dinge, und so langsam aber sicher wird Dir seine Fragerei ein bisschen unangenehm. Du fühlst Dich ja gut, also was soll das Ganze?
Dann sagt er Dir: "So sicherheitshalber sollten wir noch einen genaueren Bluttest machen. Kommen Sie morgen doch nochmal vorbei."

Du machst Dir da noch keine Sorgen. Aber ein bisschen beschäftigt es Dich trotzdem. Du sagst Dir, dass da wohl irgendwo in Deinem Körper ein Mangel sein muss. Eisenmangel oder irgend sowas. Der Arzt wird dann aber schon wissen, was er Dir dann geben muss.
Am nächsten Tag lässt Du Dir den zweiten Bluttest recht locker über Dich ergehen.

Drei Tage später musst Du wieder zu ihm hin. Diesmal schaut er sehr ernst hinter seiner Brille hervor und sagt Dir, dass er Dich zwar nicht verunsichern möchte, aber es wäre besser, wenn jetzt noch diese oder jene Kontrolle gemacht wird. Seines Erachtens nach stimmt da etwas nicht so ganz. Aber Du sollst Dir da jetzt erst mal keine Sorgen machen, ... Du sollst einfach in zwei Tagen nochmal kommen.

Jetzt bist Du doch ein bisschen MEHR verunsichert. Was das wohl sein soll? Du fühlst Dich noch immer gut und absolut nicht krank. Dein Mann sagt Dir: "Das wird schon nichts Schlimmes sein! Du musst jetzt positiv denken!"

Du gehst wieder zum Arzt und musst Dir da ein paar sonderliche Untersuchungen über Dich ergehen lassen müssen. Röntgenbilder, Ultraschall und sonst noch so verrückte Dinge mit Apparaten, welche Du noch nie zuvor in Deinem Leben gesehen hast.
Sobald es vorbei ist, bist Du erleichtert. Im Moment jedenfalls. War ja gar nicht so schlimm, diese ganzen Untersuchungen. Jetzt musst Du ja sowieso erst mal warten, bis Du vom Arzt wieder etwas hörst.
Du versuchst, diese Untersuchung zu "vergessen" und widmest Dich wieder Deinem Alltag. Du lachst und bist fröhlich wie immer. Du fühlst Dich gut und gesund.

Nach einer Woche sitzt Du wieder beim Arzt. Wieder schaut er so komisch hinter seiner Brille zu Dir. Er verschränkt seine Hände, und Du merkst, dass er jetzt offenbar nach Worten ringt. Was soll das? Waren die Ergebnisse der Untersuchungen vielleicht doch nicht so gut? Wie kann das sein, wo Du Dich doch völlig wohl und gesund fühlst? - Es KANN nichts Schlimmes sein! Unmöglich!
Dann sagt Dir der Arzt, dass die Untersuchungen ergeben haben, dass Du KREBS hast. Dass sich in Deinem Körper bereits auch Methastasen befinden. Er sagt Dir das mit langsamen, besonnenen Worten, und er spricht weiter, ohne Dich zu Wort kommen zu lassen. Er erklärt Dir sogleich das weitere Vorgehen wie Operation, Bestrahlung und Chemotherapie. Dass die Chancen für eine Heilung gut stehen, wenn man schnell handelt. Und er schreibt Dir auf einen Zettel, wann die OP statt findet, denn er hat für Dich bereits einen Termin im Krankenhaus vereinbart.

Du kannst das nicht glauben. Du fragst Dich:
WAS? - WER? - ICH? - WIESO? - WARUM?
Der Boden hat sich unter Deinen Füssen aufgetan. KREBS? Das kann nicht sein! Du fühlst Dich doch wohl und gesund!
Du gehst aus dieser Arztpraxis mit zitternden Knien. JETZT fühlst Du Dich krank! Vor einer halben Stunde ging es Dir noch völlig gut! Du stehst unter Schock. KREBS! Das bedeutet auch Tod! Wirst Du jetzt sterben?

Und dann beginnt Deine Odysee als Krebspatient. Deine Angehörigen trösten Dich mit Worten wie: "Das wird schon wieder, Du wirst sehen!" Andere Leute heulen Dir am Telefon etwas vor, oder erzählen Dir von IHREN Krankheiten, ihren Migräneanfällen und andere Geschichten, die überhaupt nichts mit Deinem Krebs-Schock zu tun haben. Du beginnst, Dich darüber aufzuregen. Dann gibt es noch Leute, die sagen Dir doch echt noch: "Weisst Du, Du konntest ja schon immer schlecht nein sagen. Ich glaube, das ist der Schlüssel zu Deiner Krankheit! Du musst jetzt halt lernen, ...!"
Du beginnst, Dich zu verteidigen, und jenen Leuten zu erklären, wie Du Dich fühlst. Aber Du merkst, dass sie da gar kein Verständnis aufbringen können.
Du ziehst Dich vor ihnen zurück.
Wirklich geblieben ist jetzt eigentlich nur noch Dein Mann. Der ist immer da. Er hat das Verständnis zwar auch nicht so ganz, aber immerhin ... er ist DA.

Weitere Untersuchungen musst Du über Dich ergehen lassen. Du hast Angst. Das erste mal in Deinem Leben hast Du panische Angst. Man drängt Dich. Die Ärzte. Deine Angehörigen. Immernoch. Es muss schnell gehandelt werden. Jaja, Du willst ja den Krebs auch wieder weg haben! Aber ist es das Richtige, was die Ärzte mir da vorschlagen? Eine CHEMO? Du liebe Zeit!
Man legt Dir Statistiken vor. Tröstet Dich.
Aber es gibt keinen wirklichen Trost. Du hast KREBS!
Wie kam der so plötzlich? Du hast Dich doch immer so gesund gefühlt. Du hast da anscheinend einen Tumor, der ist über zwei Zentimeter gross. Wie kam der da in Deinen Körper? Du hast doch nichts gespürt! Keinen Schmerz, nichts!
Du erfährst, dass so ein Tumor über JAHRE braucht, um diese Wachstumsgrösse zu erreichen. Du rechnest aus, wann da denn der Beginn des Wachstums hätte sein können. Vor zehn Jahren? Was hast Du damals gemacht? Was geschah damals, um Deinen Körper so durcheinander zu bringen, dass ein KREBS entstehen konnte?
Liegt es an Dir? Was hast Du falsch gemacht? Ist es eine Strafe? Wofür? Wozu hast Du das verdient? Das ist nicht fair!
Das ist überhaupt nicht fair ...!

Die Luft! Die Nahrung! Das muss es gewesen sein. Du hast Dich in den letzten Jahren wohl auch ein bisschen zu wenig sportlich betätigt, hm-hm!

Dann hörst Du, dass Dein Arzt Deinem Mann sagt: "Nein, psychische Ursachen sind beim Krebs völlig auszuschliessen!"
Du glaubst, Du hörst nicht richtig! Psychische Ursachen? Du bist doch nicht verrückt! Du hast doch in Deinem Leben immer das Richtige getan, oder zumindest das Beste, nach Deinen ganzen Kräften. Du hast keinen Knall. Du hattest noch NIE einen Knall!
Oder?
Warst Du vielleicht DOCH eine zu schlechte Nein-Sagerin? Hättest in Deinem Leben vielleicht öfters auf den Tisch hauen sollen?
Aber warum denn? Warum Krach machen, wenn es doch auf dem friedlichen Weg auch geht? Und überhaupt, Du magst keinen Streit. Und Du hast es ja auch für die anderen getan!
DESWEGEN sollst Du jetzt Krebs haben? DAS ist doch verrückt!
Oder?

Du weisst nicht mehr, WEM Du von Deinem Krebs jetzt erzählen sollst. Du hast Angst vor den Reaktionen der Leute. Ein paar wenige nicken nur besorgt und schweigen. Die Mehrheit tröstet Dich mit unsinnigen Worten, als wäre das alles ja gar nicht so schlimm. - Th! DIE haben vielleicht eine Ahnung!
Du hast Angst. Vor dem Sterben. Wie lange hast Du noch? Wirst Du die OP überleben? Wirst Du die Chemo überleben? Wieviele Leute werden sich von Dir abwenden? Warum wenden sie sich ab? Du hast ihnen doch nichts getan!
Oder solltest Du vielleicht doch auf die Chemo verzichten? Warum noch quälen, und es Dir schlechter ergehen lassen, wo Du Dich doch jetzt die ganze Zeit eigentlich gut gefühlt hast.
Du fühlst Dich jetzt aber krank. So sterbenskrank, dass es schon gar nicht mehr normal ist.
Oder?
Wieso nicht besser den Rest Deiner verbliebenen Tage einfach noch geniessen?
Oder DOCH Chemo? Rettet Dich das?
Die Ärzte sagen ja.
Du jedoch weisst es nicht.
Und Du weisst: Eigentlich wissen das die Ärzte nämlich auch nicht so genau.
Und jetzt?
Es muss entschieden werden.
DU musst Dich entscheiden. Es geht um Leben und Tod.
Du willst nicht sterben. Du willst Leben.
Was ist richtig? Was ist der Sinn des Ganzen?
Bist Du schuld? Sind die anderen Schuld?
Heute willst Du am liebsten gleich sterben.
Morgen willst Du nur noch Leben und alles dafür tun.
Heute hast Du panische Angst.
Morgen hast Du einen irre gutgelaunten Tag, weil Du plötzlich alles so locker nehmen kannst.
Heute sind die Untersuchungen ein bisschen heftig unangenehm, auch ein bisschen schmerzhaft.
Morgen gehen die ganzen Untersuchungen wieder ohne Zwischenfälle vorbei.
Die Ärzte sagen heute nichts. Wieso sagen sie nichts? Warum schauen sie immer so besorgt?
Du kriegst Komplimente, wie toll Du das alles aushältst! Tja, findest Du ja auch, aber was bleibt Dir sonst übrig?
Heute nimmt Dich Dein Mann ganz fest in den Arm. Oh, wie gut das tut!
Morgen jedoch kommt Deine Tante vorbei. Sie hält Dir einen Vortrag darüber, wie SCHÄDLICH so eine Chemo sein kann!
Du fühlst Dich wie auf einer Schaukel. Rauf und runter. Nichts ist mehr so, wie es vor ein paar Tagen noch war. Alles hat sich gekehrt. Nichts ist mehr normal. Kein Alltag mehr. Nur noch die Angst.
Die Angst ...


Ihr Lieben, ich hoffe, die "Was-wäre-wenn"-Geschichte ist hier jetzt nicht ein bisschen ZU krass für Euch. Einem Angehörigen geht es ähnlich, wenn er liebt und mitfühlt, ich weiss. Aber diese Geschichte hier (welche jetzt frei erfunden ist von mir, aber sonst der Realität entspricht) soll Euch aufzeigen, wie schnell und überraschend so eine Diagnose einen treffen kann, völlig unvorbereitet und ohne Sinn. Und was da alles in einem abgeht.
Für Euch, ... zum "mitfühlen", gell?

Bis später!
Liebe Grüssli von
der "krassen" Brigitte
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