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Alt 19.06.2002, 19:22
Gast
 
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Standard Woher nehmt Ihr die Kraft für den Betroffenen?

Hallo, Ihr Lieben!

Schön, dass Ihr geantwortet habt.
Es war verdammt schwierig, diese Frage zu formulieren (eigentlich sollte sie heißen: "Woher nehmt Ihr die Stärke, für jemand anderes stark zu sein", aber es passte nicht ins Überschriftenfeld).
Allzu leicht kann so was in Richtung Selbstmitleid verstanden werden, aber das war natürlich nicht gemeint! Ich stimme Euch voll zu. Ich kann es überhaupt nicht ab, wenn einer meiner Bekannten (in so einem übertriebenen Ton) sagt: "Ach, Du AAAAAAAAAAAAAaaaarme!!!" - wieso ICH??? Genau dieses Gefühl habe ich dann auch sofort.
Ich meinte wirklich die Kraft und Stärke, um sie WEITERZUGEBEN. Für mich ist diese Situation neu und wie für alle Betroffenen und Angehörigen nicht gewünscht. Damit muss man erstmal umgehen. Und dabei stellt man sich manchmal vielleicht auch etwas hilflos an. Ich meine, der Wille ist schon mal gut, denn wieviele Menschen haben wirklich den WILLEN, sich wirklich mit der Situation auseinander zu setzen, sich in den Betroffenen reinzuversetzen? Jedenfalls (meist) nicht Ärzte, Schwestern und etwas entferntere Bekannte, manchmal aber sogar die eigene Familie nicht! Ich habe schon Einiges an blöden Sprüchen mitbekommen, wo ich für den Betroffenen mitleide und denke, mein Gott, das kann doch nicht wahr sein, wie kann man so etwas sagen?!?!?!? Das geht über Auf-die-Schulter-Klopf-Mentalität bis hin zu Belehrungen und Suchen eines Grundes im Verhalten des Betroffenen. Und auf der anderen Seite IST es auch wirklich schwierig, mit so einer Situation umzugehen! Ich wüsste so gerne, wie ich mich wirklich richtig verhalte. Wie gesagt, ich wünsche mir, dass der Wille schon mal der Anfang ist, für jemand anderes stark zu sein. Wenn ich selber nicht mehr kann, kann ich ja auch nicht für den anderen da sein. Und gleichzeitig merkt man, es geht immer weiter... Mir hilft dieses Forum übrigens auch sehr, auch, um mich in die Person reinzudenken. Man ist doch in der Tat so oft einfach sprachlos.

Lisa, Dir scheint es ähnlich zu gehen wie mir (jeder geht damit ja auch unterschiedlich um)! Toll, dass Du das mit Deinen Kollegen so handhabst. Ich wähle auch aus, wem ich was erzähle.
Tja, ich glaube, Deine Schwester bekommt Ihr nur vor die Tür, indem Ihr mit ihr geht. Hat sie einen Mann? Ich denke, der könnte es am ehesten schaffen. Sie am Telefon davon zu überzeugen, ist sicher schwierig. Es sei denn, Du fährst zu ihr und ermutigst sie, mit Dir zu kommen (Dir zuliebe). Vielleicht kann sie Dir versprechen, wenigstens ab und zu in die Sonne zu gehen, es zumindest zu versuchen, und wenn es nur 5 Minuten täglich sind! Ich meine, man kennt es ja selber im Kleinen auch. Manchmal muss man sich erst mal aufraffen... das ist oft das Schwerste. Vielleicht kannst Du Ihr sagen, dass die Sonne gut tut. Es geht einem ja auch viel besser dadurch, rein medizinisch gesehen durch das Vitamin B etc.
Ich finde nicht, dass Du jammerst. Wir WISSEN doch alle, dass es dem Betroffenen am Schlechtesten geht! Gerade deswegen geht es uns ja schlecht - das ist Mitleiden. Natürlich sollte man versuchen, das nicht zuzulassen, weil es niemandem etwas bringt, da hast Du Recht. Allerdings gegen körperliche Symptome nützt es auch nichts, sich zu sagen, dass das nicht sein darf!

Was das Thema Kinder betrifft, so ist das noch mal viel schlimmer, denke ich. Ich habe auch einen kleinen Sohn, und wenn ich nur den Anflug des Gedanken habe...! Aber man darf nicht verzweifeln. Wolfgang, ich wünsche Dir ebenfalls ganz viel Kraft und ich bewundere Deine/Eure Selbstlosigkeit und Selbstverständlichkeit. Ich würde es ganz genauso machen.
Ich denke auch, auch Ihr könntet ab und zu einen kleinen "Trost" gebrauchen, FÜR Euren Sohn. Eine Aufmunterung, eine KLEINE Freude (dafür muss man sich nicht schämen - ich kenne dieses Gefühl ja auch so gut!). Vollgetankte Energie kann man mit Sicherheit auch gut weitergeben. Vielleicht besteht die Freude auch schon darin, dass Ihr Eurem Sohn eine Freude macht, irgendetwas ganz Normales mit ihm macht, Euch allen eine Freude macht, irgendetwas, was nichts mit der Krankheit zu tun hat (was Ihr ganz bestimmt tut).

Valle, ich fand Deinen Satz: "Wenn er traurig ist, darf er traurig sein" ganz wichtig. Ich glaube, mein Vater würde sich mir nie soweit öffnen, was manchmal schwieriger ist. Ich weiß bei ihm nie, ob er nicht in Wirklichkeit gelähmt vor Angst, traurig und verzweifelt ist, obwohl er normal redet (außer einer schlimmen Diagnose geht es ihm recht gut). Ich nehme es aber an... Ich weiß aber auch nicht, was ich täte, wenn er z.B. weinen würde etc. Da MUSS ich stark sein, da kann ich mich ja nicht gehen lassen.

Bei mir ist es auch so, dass ich oft vergesse, etwas Vernünftiges zu essen, nicht genug schlafe etc.

Ich hatte vor einiger Zeit ein längeres Telefonat mit einer Frau der AWO (Selbsthilfegruppen für Krebspatienten und Angehörige). Wir sprachen die ganze Zeit über meinen Vater, ich sagte, dass ich mich so machtlos fühlte, dass ich nicht wüsste, was ich machen sollte, wo es doch noch Behandlungsmöglichkeiten gäbe (es handelt sich um ein Gallengangskarzinom, eine seltene Art), dass ich solche Angst um ihn hätte etc. Die Frau hörte die ganze Zeit zu und wohl auch meinen Sohn im Hintergrund quengeln. Auf einmal meinte sie: "Vergessen Sie nicht Ihre Familie..., vergessen Sie nicht sich". DAS hat MICH sehr ins Grübeln gebracht. Ich war erst sogar ein wenig sauer, weil das doch nun nicht das Thema war, über das ich sprechen wollte. Es ging doch schließlich um meinen Vater! Aber trotzdem hallten ihre Worte irgendwie in mir nach. Ich denke, sie hat viele Erfahrungen auch mit Angehörigen gemacht und hat es sicher nicht nur so dahin gesagt, denn ansonsten hat sie alles so gut verstanden (endlich hatte mal jemand wirklich verstanden), hatte immer das richtige Wort für die jeweiligen Fragen und hat sehr lange mit mir gesprochen, was sicher auch für sie nicht so einfach war (da mir auch noch dauernd die Tränen kamen - naja, kann man nichts machen). Klar, es ging einmal darum, dass ich meine übrige Familie nicht links liegen lassen darf (!). Und es ging auch darum, dass ich trotzdem immer noch essen, schlafen und ja, auch ab und zu mal normale Dinge tun muss. Sonst kann ich auch nicht gut für jemand anderes da sein. Trotzdem fällt es mir manchmal schwer! Und an Tagen, an denen es mir leichter fällt, bekomme ich auch sofort ein schlechtes Gewissen! Doch HILFT das meinem Vater? Bin ich ihm nicht eher lachend eine Hilfe als weinend? Gut, das mit dem LACHEN klappt nicht einfach so, aber wenigstens bin ich stark, mutig und zuversichtlich sicher eine viel größere Hilfe als jammerig, schwach und traurig!! Und wenn ich das überspiele, merkt er es sowieso. Wenn ICH glaube, wir schaffen das schon, alles wird gut, dann glaubt er es auch eher. Und ich habe gemerkt, dass es mir manchmal hilft (was ihm dann hilft), wenn ich mir sage: Versuche wenigstens ein wenig zu lächeln, auch wenn Du nicht lachen kannst, versuche, positiv zu denken, Dich an der Sonne zu freuen, die Du vor lauter Nachdenken schon gar nicht mehr wahr nimmst, versuche, positive Energien zu tanken und gebe sie weiter!
Leider gelingt es mir nicht immer, aber wenn es schon keine "Rezepte" für den richtigen Umgang mit Betroffenen gibt, eine Art Betriebsanleitung, nach der wir wohl alle suchen, weil wir nichts falsch machen wollen (damit sind wir immer noch besser als die oben Beschriebenen!), dann gibt es vielleicht das eine oder andere Rezept, um sich selber einen Tritt zu geben, auch wenn es noch so schwer ist. Wenn man es selber nicht schafft, wie soll es dann erst der Betroffene schaffen? Ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht, wie ich gerne behandelt werden würde, wenn es mir schlecht ginge. Mitleid ist bestimmt schon mal schlecht. Mitleiden schon etwas besser, aber letztlich würde man seine Lieben auch nicht gerne Leiden sehen! Ich glaube, ich würde mir eine starke Hand wünschen, die mich begleitet und die mich führt, wenn ich mal nicht mehr kann. Jemand, der Optimismus und Zuversicht ausstrahlt und mich das auch glauben lässt. Es gibt ja so ganz charismatische Menschen, deren Nähe einem einfach gut tut, die Sicherheit ausstrahlen und denen man glaubt und vertraut, und so wäre ich gerne! Gut, vielleicht kommen Einige einfach so auf die Welt, aber ich denke, Einiges kann man auch lernen oder vielleicht muss man sogar dazu lernen, um mehr so zu werden. Jedenfalls möchte ich eine wirkliche Stütze sein.

Wolfgang, Du hast sicher Recht, man kann ja schon auf ein Stück Weg zurückblicken, das ist auch geschafft und man hat es nicht glauben können. Bei uns ist allerdings alles noch relativ frisch (ca. 5 Wochen).

Ich hoffe, ich konnte mich einigermaßen verständlich ausdrücken (das ist manchmal nicht so einfach bzw. gerade bei solchen Themen doppeldeutig). Ich wünsche Euch allen ganz viel Kraft!
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