Thema: Stammtisch
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Alt 09.04.2006, 11:47
Blue Blue ist offline
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Standard AW: Stammtisch

Hallo Mädels,

wo ist die Sonne geblieben? Obwohl es mein erster Frühling im anderen Leben ist, hat mir die Sonne gestern gut getan. Der Gedanke, der erste Frühling ohne ihn, hat weh getan und dann kam bei mir – trotzdem. Frühling! Die schönste Jahreszeit.

Unsere bzw. jetzt meine Schwalben sind gestern wieder gekommen – pünktlich wie die Maurer. Auch im letzten Jahr sind sie an dem Tag gekommen. Das weiß ich ohne nachzulesen. Bin ich doch ins Krankenhaus gestürmt und habe Jürgen davon erzählt. Ob er es richtig aufgenommen hat? Ich weiß es nicht. Und jetzt gestern dachte ich mir – wenigstens die Schwalben lassen mich nicht allein. Sie waren gestern gleich fleißig und haben ihr Nest ausgekehrt. Komisch, ich freu mich an dem Stroh und Heu das herausfällt. Aber es sind nicht alle so.

Ich hab mich gestern abgelenkt mit Arbeit – hab endlich mal wieder die Wohnung aufgeräumt. Ich brauchte Fingerarbeit, damit die Gedanken sich formulieren, damit es klarer wird. War sogar so verrückt und hab mir um 8 noch die Bügelwäsche geholt. Anschließend war ich einfach nur müde und bin irgendwann auf dem Sofa eingepennt. Das Haus hier war leer – alle waren ausgeflogen und ich kam mir vor wie auf einer einsamen Insel. Die Samstage waren sonst immer so viel schöner.

Jetzt kaue ich am Trauer zulassen rum und denke an meinen persönlichen Schalter. Dieser Schalter wird umgeklappt, sobald ich die Wohnung verlasse, es ist wie eine Maske. Ich denke mir oft, Trauer hat in der Welt da draußen keinen Platz. Ich muß funktionieren, möchte das meist auch. Möchte kein Mitleid, keine verstohlene Blicke – damit wird es sonst für mich noch viel schlimmer. Nein, ich möchte einen normalen Umgang – ohne Vergessen – aber das ist nicht mal mit den engsten Familienmitglieder möglich. Zu gerne lassen sich alle blenden, zu gerne hinterfragt keiner. Nein, verdrängen tu ich das Geschehene nicht. Ich komme nach Hause und es fühlt sich im Moment wieder ganz neu an – keiner ist da. Das Erschrecken, was mach ich nur?

In den Tagen, in denen es ganz besonders schlecht geht, sitze ich schon mal bei der Arbeit und schaue zum Fenster raus. Kommt jemand rein, erschrecke ich nicht – das nehme ich mir heraus. An diesen Tagen sitze ich auch mal vor meinem Schreibtisch und die Tränen kullern, kommt jemand dazu wird die Tür meist schnell wieder zugemacht. Ich habe schlechte Erfahrungen damit gemacht, in dem Moment zu sagen „ich kann jetzt nicht, mir geht es nicht gut“. Meine Chefin hat mich dann gefragt: warum? Ja, warum?

Da hilft die Wut. Man holt Luft, man bäumt sich auf und zerreisst das bestimmte Schild. In dieser Wut finden sich bei mir dann Worte, die dringend mal ausgesprochen werden müssen. Mit dieser Wut kann ich mich wehren und endlich fragen „was denkt ihr euch eigentlich“. Meist verändert sich nicht wirklich etwas, die Wut fällt in sich zusammen, eine große Müdigkeit kommt. Aber für einen Moment war die Wut hilfreich.

Mein Jürgen ist sehr sparsam mit seinen Besuchen bei mir. Ich träume sehr selten von ihm. Sehr oft gehe ich abends ins Bett und bitte ihn darum, mich in der Nacht zu halten, aber offensichtlich macht er es nur in ganz wenigen Fällen, wohl nur dann, wenn es anderst nicht geht. Und bei den wenigen Malen trägt es mich wieder eine Weile, ist ein Hauch von Seelenfrieden in mir. Ja, das hätte ich gerne öfter. Und ich höre mal wieder den Pflegedienst sagen: ihre Frau will wieder alles. Ja!

Und dabei höre ich ihn gerade jetzt lachen und den Kopf schütteln. Hab mir für mich sehr ungewöhnliche Schuhe gekauft – für eine Hochzeit. Solche Schuhe hatte ich noch nie – vom Aussehen her und vom Preis. Und jetzt watschle ich durch die Wohnung und versuche das Gehen zu lernen. Wie ein Storch im Salat. Hab ne` Schlamperhose an, stubbelige Haare – aber einen Traum von Schuhen. Und was ich bis gestern nicht dachte, die verflixten Schuhe drücken. Hätte ich die Schuhe wenn er noch da wäre? Sicher. Was würde er sagen wenn er noch richtig hier wäre? „Also nee, das ist aber jetzt nicht dein Ernst“ Doch, Herzchen, das ist mein Ernst – sieht toll aus, mit dem Rock und der Jacke, wirst schon sehen!

Vielleicht kommt heute ja doch noch die Sonne raus? Vielleicht bekomm ich heute doch noch ein unerwartetes Lachen? Ich geh jetzt raus - in die Welt - mit anderen Schuhen. Und bilde mir ein, alles ist noch ganz normal - es ist nichts passiert, solange bis ich wieder hier her komme. In die Leere, in die Stille.

Bruni

Bruni
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