Thema: Mami
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Alt 09.01.2018, 23:01
desireh desireh ist offline
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Standard AW: Mami

Liebe Andrea,
vielen Dank für deine lieben Worte! Es hört sich jetzt schlimm an, was ich sage, aber mein Mami und ich waren uns vor allem die letzten 3 Monate nah.
Wir waren sonst nicht so eng. Da sich unsere Rollen von Mutter/Kind schon sehr, sehr früh irgendwie tauschten.
Danke auch wegen meinem Vater. Er muss wohl den Karpaltunnel an der zweiten Hand operieren, hoffen wir der Arm wird dann besser.
Wie geht es dir? Und wie geht es mit deiner Schwester?


Liebes Mami

Morgen sind es schon drei Monate, seit dem du gegangen bist. Wie verging nur diese Zeit? Es kommt mir vor wie gestern. Ich habe Angst vor Morgen.
Auch wenn es mir zur Zeit viel besser geht, fürchte ich mich, dass ich morgen wieder ins Loch falle und den ganzen Tag von der Rolle bin.
Du bist nicht mehr da und manchmal habe ich das Gefühl, ich verdräng es einfach? Es sterben im Dorf viele Leute. Auch Mütter und Väter. In deinem Alter oder Jünger.
Es erschreckt mich, dass ich plötzlich so viele Leute "kenne" in deinem unmittelbaren Umfeld am Grab.

Am Sonntag waren wir am Grab. Der Sturm "Burglind" hat ganze Arbeit geleistet und dem Engel ist der Kopf abgefallen (den, den wir schon mal leimen musste, als du den plötzlich in der Hand hattest!).
Naja, wir versuchen ihn nochmals zu leimen... Der Friedhofsgärtner hat beim aufräumen, ein paar Pflanzen die eigentlich zu dir gehören, einem anderen aufs Grab gelegt.
Musste ich dann schon richtig stellen! Aber ist ja auch schwer zu wissen, der junge Mann hat noch immer mindestens 20 Kerzen und 5 Pflanzen/Sträusse bei sich.
Unglaublich wenn so jemand Junges einfach aus dem Leben gerissen wird, durch einen tragischen Unfall.

Am Samstag war ich kurz durch den Wind. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wie dein Lachen klingt... Ich hatte Panik. Habe ich etwa schon fertig getrauert? Vergesse ich dich jetzt?
Werde ich nur noch die letzten 3 Monate von dir im Kopf haben? Die Bilder mit dem aufgedunsenen Hals, wegen dem Kortison?

Wie erwähnt geht es mir einiges besser. Trotzdem frage ich mich, ob ich mal therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen sollte? Rückblickend waren die letzten zwei Jahre mit dir die schönsten.
Wir waren uns näher. Ich habe plötzlich die Geduld gefunden und habe dich mit dem Schlaganfall so genommen wie du warst.
Ich habe mich nicht mehr genervt und es war mir nicht mehr peinlich oder unangenehmen, wenn etwas in die Hose ging oder du im Restaurant alles über den Tisch verschüttet hast...
Es war halt einfach so, es war für mich normal. Und wie gesagt, die letzten drei Monate mit dem Krebs, waren so intensiv. Plötzlich so nah, wir brauchten das beide.
Damit wir (oder ich?) merkten, dass es eben mehr gibt auf der Welt als ein "normales" Mami zu haben und damals eine "normale" Kindheit.
Nämlich das Bewusstsein, dass man verzeiht, liebt und auch gütig ist. Egal was war. Drüber steht und hilft. Irgendwie bin ich froh.

Irgendwie finde ich es aber nur tragisch, dass wir solange dafür brauchten und früher immer mit einer gewissen "Aggression" miteinander umgingen.
Manchmal denke ich an die Worte des Pfarrers. Dass es mehr Menschen geben müsste wie mich, die verzeihen und tolerieren, obwohl man nicht müsste - sind wir eigentlich nicht alle so?
Das ist doch gar nichts besonderes. Menschen die man liebt, für die opfert man sich doch einfach auf?! Egal ob sie es "verdienen" oder nicht.

Ich vermisse dich und denke morgen noch mehr an dich.
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Mami, nicht-kleinzelliger Lungenkrebs
28.8.1950-10.10.2017

Papi, Prostatakrebs

Geändert von desireh (09.01.2018 um 23:10 Uhr)
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