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Alt 01.03.2013, 20:33
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Standard Unser Lungenkrebs

Meine Mama hat mir heut ein Päckchen zukommen lassen. Und Papa hat es anscheinend geschafft, dort einen kleinen Briefumschlag mit hineinzuschmuggeln.
Hier die Geschichte dazu, die mich gerade noch einmal ziemlich aus der Bahn geworfen hat.
Auf dem Briefumschlag stand heute: „Lies ihn, wenn du Ruhe dazu hast. Lass das Ganze unser Geheimnis bleiben, solange ich noch auf dieser wunderschönen Welt mit dieser großartigen Familie verweilen darf. Zu gegebener Zeit kannst du mit Mama und Chrissi darüber reden. Ich schicke dir diesen Brief, weil ich möchte, dass wir beide damit abschließen. Zerreiße ihn in tausend Stücke, geh in den Park und verbrenne ihn – tu was dir am Liebsten ist. Aber versprich mir, dass er nicht in deiner Schublade verweilt und dich noch oft zum Weinen bringt. Es reicht, dass wir unsere beider Gedanken kennen. Wir brauchen dazu diese Seiten nicht mehr.“
Ich wusste sofort, worum es geht und ich hatte Angst davor den Brief noch einmal zu lesen – denn ich kannte ihn schon. Da mir Papa aber anscheinend zutraut, dass ich schon mutig genug bin, musste ich mich jetzt damit auseinander setzen. Und ich schreibe das hier jetzt, weil ich nicht in der Lage bin darüber zu reden, es aber mit jemandem teilen möchte, der das versteht und nachvollziehen kann - und das können leider nur die Betroffenen wirklich. Ich erwarte auch nichts, ich muss es mir einfach von der Seele reden, um mich zu erleichtern und auch um mit dem Kapitel mehr oder weniger abzuschließen.
Als die Krebsdiagnose kam, ging jeder erstmal seinen eigenen Weg, um damit umgehen zu lernen. Papa wollte viel allein sein und nachdenken, Mama weinte viel, ich ging viel feiern. Ungefähr drei Monate nach der Diagnose entschlossen wir alle, dass von nun an wieder ein gemeinsamer Weg gegangen wird. Wir saßen abends vor dem Kamin und jeder sollte über seine größten Ängste reden. Papa sagte er hat Angst uns allein zu lassen, nicht mehr alles miterleben zu dürfen, seine gesteckten Ziele nicht mehr erreichen zu können, uns zur Last zu fallen und keine Stütze mehr darzustellen. Und er habe Angst zu Sterben, sich quälen zu müssen, hilflos zu sein. Mama sagte sie hat am meisten Angst davor, dass die Liebe ihres Lebens geht, dass das Essentiellste sie verlässt, dass sie ihre Kinder trauern sehen muss, dass sie mit aller Verantwortung allein dasteht, mit dem riesen Haus, der Firma und dass sie befürchtet sich nie aus dem Loch befreien zu können.
Tja, das waren die Erwachsenen-Ängste. Und dann stand ich da mit meinen 18 Jahren. Frisch das Abi in der Tasche. Ich sagte, dass ich ja sein Fleisch und Blut bin und nichts funktioniert ohne ihn, dass ich kaputt gehen würde vor Sehnsucht und eine Hälfte von mir mitsterben würde. Dass ich meinen Papa noch brauche. Ich hab Angst, dass ich die Kraft verlieren würde fürs Studium und fürs Leben generell. Und er muss doch da sein, wenn ich mein Baby im Arm halte oder Richtfest feiere. Dass er doch dann neben mir stehen und sein Arm um mich gelegt sein muss in all diesen Momenten. Und ich sagte, dass ich ja noch nie auf einer Beerdigung war und dass die von meinem eigenen Papa nicht die erste sein darf, dass ich den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hab mit dieser Diagnose. Ich sei doch noch zu jung und so haltlos und klein auf dieser Welt. Und mir sei aufgefallen, dass ich ihn regelrecht anstarre und am Fenster stehe und beobachte, immer in der Hoffnung, dass ich das morgen auch noch kann.
Ich redete ganz viel durcheinander und konnte nicht weinen, aus mir brach einfach alles heraus, was ich sagen wollte. Mama und Papa saßen tränenüberströmt da.
Mir kommen heute noch die Tränen, wenn ich daran zurückdenke.
Das war aber alles nur die Vorgeschichte. Jetzt zum Wesentlichen:
Ein paar Tage später, klopfte mein Papa an meiner Zimmertür, setzte sich ganz normal zu mir hin. Wir unterhielten uns eine halbe Stunde, alles war ganz normal. Und dann drückte er mir einen Brief in die Hand und ging wieder.
Ich war etwas verwirrt. Mein Papa hat noch nie in seinem Leben Briefe geschrieben, glaube ich. Ich wusste schon, dass es was Wichtiges sein wird oder was Schlimmes oder was auch immer. Auf jeden Fall konnte er es mir nicht sagen – obwohl wir sonst immer über alles geredet haben. Also schnappte ich mir Leo, trottete auf eine Wiese und hab mich dann ins Gras gesetzt und diesen gottverdammten Brief gelesen. Und ich habe ihn beantwortet. Und genau diese beiden Briefe, hat Papa mir heute geschickt. Zum Vernichten sozusagen.
Papas Brief:
„Meine Püppi,
wir sind wohl beide die mit den stärksten Nerven in unserer Familie und darum vertraue ich dir hier meine Gedanken an. Es ist noch alles zu frisch, um darüber zu reden und ich finde hier sicherlich auch die passenderen Worte, als in einem Gespräch.
Niemand kann sich vorstellen, was so eine Diagnose bedeutet und wie es sich anfühlt Angst zu haben vor dem Sterben. Ich habe mir das wahrlich anders vorgestellt. Vielleicht ein LKW-Unfall, oder eine schwere OP, die ich nicht überlebe. Aber nun sitze ich hier und kämpfe gegen unbesiegbaren Krebs. Klingt schon so, als müsste man einfach dagegen verlieren, was? Aber vielleicht gewinnen wir ja. Wenigstens noch wertvolle gemeinsame Zeit.
Du weißt, dass es kein Leben für mich wäre, wenn ich im Bett dahinvegetiere, nicht mehr laufen könnte, Hirnmetastasen mir meine klaren Gedanken rauben würden. Du weißt, dass ich immer euer starker Held sein will. Du weißt, wie wichtig Lebensqualität ist und was sie bedeutet wenn man 50 Jahre lang immer ein eigenständiger und ich gebe zu auch eigensinniger Mann war.
Was ich dir sagen will: wenn ich merke, dass es kein Vorwärts mehr gibt, wenn ich mein Leben nicht mehr so führen kann wie ich es gern hätte, wenn ich weiß, dass der Krebs mich mit Sicherheit in den nächsten Monaten besiegen wird, dann werde ich meinem Leben ein Ende setzen. Weiter habe ich den Gedanken noch nicht geführt, aber er steht fest.
Das ist dann meine letzte Entscheidung und auch die einzige, die ich dann noch treffen kann. Bevor ich besiegt werde, werde ich freiwillig gehen. Zum Einen damit ich mich nicht quälen muss und zum Anderen – vor Allem zum Anderen – um euch das Ganze zu ersparen. Ihr sollt mich so in Erinnerung behalten wie ich bin und nicht als hilfloses, sterbendes Elend.
Entschuldige, dass ich dich damit belaste, aber du hast ein Recht es zu erfahren und ich bin mir sicher, dass du es sowieso hättest wissen wollen. Du willst doch immer alles wissen, am liebsten jeden kleinen Gedanken.
Du musst unbedingt wissen, dass ihr immer alles richtig macht und ihr immer das Wertvollste in meinem Leben seid und mich zum glücklichsten Menschen macht. Selbst mit der Krankheit bin ich noch „totglücklich“.
Ich liebe dich!“
Mir stockte damals bei jedem Wort der Atem und ich war danach sicher zwei Stunden mit Leo spazieren, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Als ich Zuhause war, schrieb ich meinem Papa sofort zurück.
Mein Brief:
„Du allerliebster Papsi,
ich bin so dankbar, dass du so ehrlich bist und mich an allem teilhaben lässt. Ich bin dankbar für jede einzelne Zeile und ich hoffe, du konntest dir deine grässlichen Gedanken etwas von der Seele schreiben.
Vorweg: ich werde alle Entscheidungen vollends akzeptieren, die du triffst. Ich werde JEDEN Weg mit dir gehen, ganz gleich wie steinig er sein wird. Ich bin gewappnet für alles, denn ihr habt mich mit so viel Liebe gesegnet.
Es ist für mich absolut utopisch, was du da schreibst. Nichts davon will in meinen Kopf, geschweige denn in mein Herz.
Ich will und kann dazu nicht viel mehr sagen.
Trauer ist sehr zweigeteilt. Man trauert, weil ein wundervoller Mensch stirbt, weil er die vielen schönen Dinge nicht mehr erleben kann, weil er eigentlich noch so viele Jahre gehabt hätte. Man trauert weil man den Tod für den Verstorbenen bedauert und bemitleidet.
Aber vor allem ist Trauer egoistisch. Man weint, weil man selbst den Verstorbenen vermisst, weil einem selbst tausend Dinge fehlen.
Das wollte ich nur mal anmerken, in der Hoffnung dass wir das noch ganz weit vor uns herschieben können und in der Hoffnung, dass ich vor Allem FÜR dich traurig bin und nicht um dich. Aber ich kann jetzt auch noch nicht traurig sein, denn wir kämpfen jetzt erst einmal!
Ich bin so stolz auf dich. Und ich liebe dich aus tiefstem Herzen!“
Ich saß neben ihm, als er meinen Brief gelesen hat. Wir haben anschließend noch ein paar Minuten darüber philosophiert, ob er es wirklich tun würde, wenn es hart auf hart kommt. Ob er wirklich springen würde, die Tabletten schlucken würde... Oder ob er bleibt und sich quält, allein um noch bei uns zu sein. Wir wussten beide keine Antwort darauf. Wir haben nie wieder ein Wort über dieses Thema verloren und werden es auch nie wieder tun. Und ich bete, dass ich es noch Jahre lang nicht meiner Mama und Chrissi erzählen muss.
Vorhin ist nochmal ganz schön was über mich hereingebrochen. Ich war wieder traurig über die damalige Situation und darüber dass unsere Seelen solche Last tragen müssen, aber vor allem bin ich stolz und erleichtert, dass wir den Kampf bis jetzt immer für uns entschieden haben.
So, jetzt geht’s mir besser.

Zur Situation: ED vor gut 2 Jahren. Adenokarzinom T1N3M1 (eine Knochenmatastase in der Wirbelsäule). Heute nur noch Narbengewebe und Therapie mit Tarceva. Und trotzdem immer eine tickende Bombe.

Luisa
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Alt 02.03.2013, 12:14
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Ylva Ylva ist offline
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Registriert seit: 21.10.2005
Ort: Hessen
Beiträge: 3.114
Standard AW: Unser Lungenkrebs

Hallo Luisa,

ich kann dich so gut verstehen.
Als meine Mama die Diagnose Brustkrebs bekam, war ich 17. Und all die Gefühle die du beschreibst, all deine Worte könnten auch von mir sein.
Wie oft denkt man, dass man die Situation nicht schafft, dass man diese Last nicht tragen kann und rückblickend ist es enorm was man dann trotzdem , gemeinsam, aber auch alleine, schafft.
Plötzlich wird vieles andere, was einem immer wichtig schien, so unwichtig. Und plötzlich, ist man ganz schnell "erwachsen".
Was ich wirklich gut finde, ist, dass ihr euch zusammen gesetzt habt und über eure Ängste gesprochen habt. Das war bei uns leider fast nie so.
Und auch im Freundeskreis, war es kein Thema, worüber jemand mit mir gesprochen hat. Nicht weil sie es nicht wollten, ich glaube, es waren einfach alle damit überfordert. Ich ja auch, aber ich musste mich damit auseinander setzen. Für Mama war und bin ich immer der Ansprechpartner gewesen, mein Vater konnte damit nie umgehen und hat sich verkrochen und mein jüngerer Bruder ebenfalls.

Ich finde es schön, was du deinem Papa geschrieben hast und ich glaube du warst und bist ihm ein großer Halt - was schön aber auch manchmal unendlich schwer zugleich ist.

Die Diagnose stellt alles auf den Kopf, es zieht einem den Boden unter den Füßen weg und nichts ist mehr wie es mal war und nichts wird mehr wie es mal war.

Mamas ED war 2004, mit schlechter Prognose seitens der Ärzte.
Und trotzdem, immer eine tickende Bombe.

Ich hoffe, dass es deinem Papa weiterhin und noch ganz lange gut geht!! Aber ich weiß auch, dass man trotzdem Angst hat. Sie wird weniger, aber gerade vor den Nachsorge Terminen oder wenn irgendwo etwas weh tut...dann überrollt die Angst einen und reisst einen mit.

Ylva
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