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Alt 26.07.2002, 23:21
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Standard Mein schwerster Gang für diese Krankheit

Ich habe lange überlegt, ob ich mein Erlebnis mitteilen soll, aber ich möchte es tun, weil ich von dem Tag an, an dem ich erfuhr, daß meine Mama Bauchspeicheldrüsenkrebs hat, hier als stiller Zuhörer so manche Hilfe und auch Trost erhalten habe. Ich hoffe, ich kann Euch hiermit ein wenig Kraft geben.

Als ich heute wach wurde, hatte ich nur einen Wunsch: nicht aufstehen zu müssen, um diesen Gang zu gehen, der der Schwerste in meinem bisherigen Leben sein würde. Ähnlich hatte ich mich in der Zeit gefühlt, als Mama im Krankenhaus lag. Bei jeder Fahrt ins Krankenhaus habe ich mich gefragt, was mich denn heute erwarten würde. Schläft sie ? Ist sie wach ? Hat sie Schmerzen und ich kann ihr wieder und wieder nicht helfen ? Kann nur zusehen und versuchen, ihr das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine ist, dass ich für sie da bin, versuchen, meine Liebe auf eine Art auszudrücken, die dann doch unbeholfen wirkt. Ich habe gelernt, ich habe gelernt zu sehen, wie ich ihr auch nur die kleinste Hilfe anbieten kann, ohne dass sie ihren Stolz verliert, weil sie mich um Hilfe bitten muss. Es war am Anfang nicht so, sie war gereizt, ich wusste nicht, was ihr gut tun würde. Im Laufe der Zeit war es wie ein stilles Übereinkommen, das wir heimlich getroffen haben. Sie, die zulässt, sich auch in den unmenschlichsten Situationen von mir helfen zu lassen. Ich, die darüber hinweggesehen hat und immer nur meine Mama gesehen habe, weil sie für mich immer noch dieselbe war.
Unwürdige Momente, in denen ihr die Tränen liefen, weil sich nicht wollte, dass ich sie so sehe, in denen mir die Tränen liefen, weil mein Hals zugeschnürt war und ich ihr am liebsten gesagt hätte, dass es mir nichts ausmacht, sie so zu sehen. Ich nannte sie in dieser Zeit liebevoll Meine Kleine Mama. Und so haben wir beide zugelassen, uns in der noch wenigen, verbleibenden Zeit noch näher kennen zulernen, näher als manche Menschen es jemals erleben werden.

Ich konnte ihr Ängste nehmen, habe sie nicht bedrängt, mit mir zu reden, obwohl ich glaubte, dass sie über den Tod reden wollte, über das, was danach mit uns passiert, wie unser Leben weitergeht. Wie würde unser Leben ohne Mama aussehen ? Ich konnte es mir nicht vorstellen und auch heute noch ist es schwer zu glauben, dass sie nicht mehr bei mir ist. Ich kann nicht mehr mit ihr reden, kann sie nicht spontan besuchen und sagen, was ich gerade erlebt habe, um mich ihr mitzuteilen, wie ich es so oft getan habe, weil ich wusste, dass sie sich mit mir freut.

Mein Leben hat sich verändert und ich weiß, dass es irgendwann so kommen musste, dass ich sie verliere. In den letzten Jahren habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, wenn sie stirbt. Ich habe schon damals bittere Tränen geweint, aus Angst davor, dass ich damit nicht umgehen könnte, aus Angst davor, dass ich ihr dann nicht meine Kinder in den Arm legen kann, damit sie von ihr die gleiche Geborgenheit bekommen, die sie mir gegeben hat. Meine ungeborenen Kinder, die keine Oma haben werden, die sie nur aus meinen Erzählungen kennen Lernen. Aber ich werde ihnen erzählen, wie sie war und dass sie eine tolle Frau war.

Ich leide. Ich wollte sie nicht gehen lassen, zuerst nicht, doch dann, als ich gesehen habe, wie sehr sie sich quält, wie sehr sie leidet, wusste ich, dass es besser für sie ist, wenn sie gehen kann, bevor es noch schlimmer würde.

In unserer letzten Nacht waren wir beide alleine. Sie hatte stundenlang schon nicht reagiert, nicht gesprochen, schien weit weg zu sein. Sie hatte Fieber, bekam kaum noch Luft, ihr lief der Schweiß nur so runter, kalt. Sie hatte die Augen offen und ihr Blick war lange schon leer. Ich bekam Angst und dachte, hoffentlich ist das kein Zeichen. Die Schwester und der Pfleger konnten mir auf meine Fragen auch nur traurig in die Augen sehen und sagen, dass sie für sie nichts mehr tun können. So habe ich meine Tränen verdrängt und all meine Kraft genommen, die mir noch blieb. Stundenlang habe ich mit ihr geredet, habe für sie gesungen. Ich habe ihre Hand gehalten, sie umarmt, sie berührt, stundenlang. Ich wusste, dass sie mich fühlt und ich wollte nicht loslassen. Ich habe ihr mit warmen Tüchern den Schweiß abgewischt, ihr zugeredet und ihr auch gesagt, was ich nicht für möglich gehalten hatte. Ich habe ihr gesagt, dass sie den Weg wählen soll, der für sie besser ist. Habe gesagt, sie hätte die Möglichkeit, entweder den schweren, dunklen weg zu gehen, bei dem jeder Schritt schmerzen würde. Oder aber den anderen sonnigen Weg in eine schöne neue Zeit. Du kannst loslassen, Du hast genug gekämpft, jetzt bist Du dran, Mama und musst an Dich denken. Endlich. Einmal.

Dann musste ich die Schwestern rufen, weil die Atemnot so bedrohlich war, dass ich nicht mehr wusste, was ich machen sollte. Bevor die beiden kamen, um ihr noch einmal die Lunge abzusaugen, war ich mit ihr alleine, habe ihr erzählt, was sie gleich mit ihr machen würden. Hilflos, kraftlos und traurig habe ich gesagt: Es wird Dir gleich besser gehen, Mama. Ich wusste, dass die Schwestern mich rausschicken würden und habe Mama gesagt, dass ich gleich wieder für sie da bin. Und dann geschah das, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie blinzelte mit den Augen und sah mir seit Tagen das erste Mal direkt in die Augen. Und ich erkannte an diesem Blick, dass sie wusste, was passieren würde. Sie konnte nicht sprechen, konnte sich auch seit Tagen schon nicht bewegen, hatte einfach keine Kraft mehr.
Aber in dieser Minute musste sie all ihre Kraft, die ihr noch blieb, zusammengenommen haben, denn sie hob beide Arme, ganz langsam und vorsichtig, es muss sehr geschmerzt haben. Sie schaute mir immer noch in die Augen und hielt ihre Arme für mich offen, wie sie es immer schon getan hatte. Ich beugte mich vor und sie schloss beide Arme um mich. Mir war zum Schreien zumute und doch habe ich mit aller Sanftheit gesagt. Ich hab dich lieb, Mama. Ich fühlte einen leichten Druck, der mir sagen sollte. Balli, ich muss mich von dir verabschieden. Ich konnte nichts mehr sagen..... das war unser Abschied. Danach kam sie nicht mehr zu sich, hat nur noch die letzten Stunden vergehen lassen und ist zehn Stunden später für immer eingeschlafen.




Warum wird man nach einem solchen Verlust brutal in die Realität zurückgerissen ? Mit welchem Recht werden mir Fragen gestellt, welchen Sarg ich wähle, ob er bei der Trauerfeier stehen bleiben soll oder ob sie ihn absinken sollen. Warum redet jeder mit mir und sagt: Herzliches Beileid ? Warum fragt mich keiner, wie es geht dir jetzt ?

Daddy und ich haben mit Mama in den letzten Wochen die intensivste Zeit erlebt, haben wieder einmal gelernt, wie wichtig sogenannte Kleinigkeiten sind, die gar nicht klein sind. Mama hat ihr Leben lang eine Vorliebe für eine ganz besondere Art von Kissen gehabt. Sie nannte es ihr Schnullikissen. Wir haben das Kissen in diesen Wochen im Krankenhaus 1000 mal zurechtgerückt, nur damit sie besser liegen kann... und wir haben den letzten Kissenbezug abgenommen, gewaschen, das Schnullikissen frisch bezogen, so wie sie es am liebsten hatte und haben es mit in den Sarg legen lassen, nur damit sie besser liegen kann...

Mama hatte im Krankenhaus immer noch die Hoffnung, noch einmal für ein paar Tage nach Hause zu kommen, um den Frühling in ihrem Garten zu spüren. Sie war inzwischen so einsichtig, dass sie wusste, sie konnte nichts mehr im Haus machen, sie wollte nur noch einmal auf der Terrasse liegen und die Blumen und die Schmetterlinge betrachten. Die Blumen...

Ich habe gesagt, ich möchte keinen klassischen Blumenschmuck auf dem Sarg, es soll fröhlich aussehen, bunt und hell. Ich wollte Sonnenblumen und es wurden Sonnenblumen, so leuchtend, so schön, als wollten sie mir Kraft schenken.

Es gab keine Beerdigung. Die Trauerfeier war vor zwei Monaten und in der Zwischenzeit wusste ich immer, es ist noch nicht zu Ende. Nach dem heutigen Tag wird es gut sein, es wird noch weh tun, aber auch wenn es mich manchmal zu zerreißen droht, ich kann es akzeptieren.

Ich möchte ein Bild malen, jenes von heute, das mir mein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf gehen wird: Mein Blick ist verschwommen und tränenverhangen. Es ist mein Blick auf das weite Meer, eine einzelne Möwe fliegt mit uns, direkt vor mir schwimmen sie auf dem Wasser... SONNENBLUMEN...
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