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Alt 22.10.2011, 21:19
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HelmutL HelmutL ist offline
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Standard AW: Hinterblieben, nur wo?

Mal in Gedanken .........

im Februar 2008 sagte ich zu meiner Frau: "Geh, wenn du möchtest. Es ist genug." Ich habe damals nicht verstanden, was "loslassen" wirklich heisst. Erst viel später hab ich begriffen, dass ihre Seele die Freiheit braucht. Die Freiheit, aus diesem gequälten Körper in eine andere Welt ohne Schmerzen zu gehen.

Und noch was: man kann den Körper nicht halten und die Seele schon gar nicht. Die Seele in dem Sinne los zu lassen wie den Körper würde jedoch heissen, dass sie weg ist. Unerreichbar für immer. Genau wie der Körper. Die Seele los zu lassen heisst vielmehr, ihr die Freiheit auch der Rückkehr zu geben und sie kommt zurück. Der Körper ist tot, die Seele jedoch, die lebt.

Mal ein Beispiel. Wenn ich mein Kind nicht loslasse, wird es körperlich bei mir bleiben. Der Geist, die Seele, wird sich meilenweit entfernen oder ich habe mein Kind versklavt. Vielleicht wird das Kind sich mit Gewalt befreien und dann wird es in der Regel nie mehr zurück kommen. Lasse ich es aber los, gebe ihm seine Freiheit, dann wird es auch immer wieder zurück kommen. Nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Ich lasse also nicht los in dem Sinne, dass ich es wegschicke, sondern gebe ihm die Freiheit ohne die Bindung zueinander zu durchschneiden.

Ich lasse meine Frau also los, sage "Ja" zu der Freiheit ihrer Seele. Ich lasse los, damit sich meine Seele an die ihre lehnen kann, wenn meine traurig ist. Die ihre sicher auch. Sie wäre ganz gerne noch ein Weilchen hier geblieben. Ich halte nicht fest, krampfhaft. Ich lasse es zu. Halte ich einen Stein in der Hand und lasse ihn los, dann fällt er zur Erde und kommt nicht von alleine zurück in meine Hand. Die Seele von Myriam schon.

Loslassen ist nicht gleich loslassen. Das Wort hat nicht nur eine Bedeutung.

35 Jahre des Zusammenlebens haben sowohl meine Frau als auch mich geformt. Jeder nimmt ein Stück des anderen an. Also ist sie nicht nur rein gefühls- und/oder geistesmässig ein Teil von mir sondern auch ganz konkret. Ich wäre devinitiv nicht so, wie ich heute bin, ohne diese Jahre mit ihr. Sie ist also da, bei mir, in mir selbst. Würde ich sie also loslassen=wegschicken, ich gäbe einen Teil von mir selber auf. Muss oder soll ich das? Nein. Warum auch. Es wäre ein Verrat an der Liebe.

Loslassen werde ich auch niemals die Vergangenheit. Sie abschliessen bedeutet für mich, sie auf die Seite zu drängen, sie zu vergessen. Wovon soll ich dann leben? Sie gibt mir die Sicherheit der Erfahrung, des Durchkämpften, des Erduldeten, des Geschaffenen. Ich gehe manchmal in Gedanken zurück und erlebe so vieles noch mal. Nicht nur Schreckliches, auch das Gute und Schöne. Warum sollte ich das alles wegwerfen? Ich bin meine Vergangenheit, sie zu leugnen ist zwecklos. Nur Babys haben keine Vergangenheit. Ich wäre wieder ein nacktes Baby, welches sich seine Vergangenheit erst mühsam erschaffen muss.

Ich sage JA zu meiner Vergangenheit. Ich sage Ja zu meinem Leben. Ich sage Ja zu den Dingen, die sich mir noch stellen werden. Gute wie schlechte. Würde ich Nein sagen, ich müsste sehr viel Zeit und Energie darauf verwenden und könnte daher vielleicht das Gute nicht sehen. Sage ich Nein, schau ich nicht hin auf das tatsächliche Problem, gehe ihm aus dem Weg. Sage ich Ja, dann kann ich erkennen, was die Aufgabe ist und eine Lösung suchen ohne dabei die anderen Dinge aus den Augen zu verlieren.

Ein Ja gibt mir die Möglichkeit der Lösung. Oder auch der Nicht-Lösung. Egal. Beides bringt mir Erfahrung. Ja zu meinem Leben mit Myriam, Ja zu ihrer Krankheit, Ja zu ihrem Tod, Ja zu meiner Trauer und jetzt Ja zu meiner Zukunft.

Das einzige, auf das ich mich von meinem Leben stützen kann ist meine Vergangenheit. Auf diese kann ich bauen. Sonst hab ich nichts in den Händen, was ausbaufähig und sicher ist. Soll ich das loslassen? Nein!


Liebe Grüsse,

Helmut
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