"Alltag, was ist das?"
"Wie kommst darauf?"
"Ach, nur so ...."
"Hei, mach mir nix vor. Ich kenne dich. Das kommt nicht einfach so."
"Jaaa, OK."
"Also, was ist?"
"Erinnerst du dich, wie es damals war, als Myriam starb?"
"Wie sollte ich! Doch du hast mir oft genug davon erzählt. Denn man los."
"Es gab für mich keinen Alltag mehr. Ich habe es gehasst, wenn ich sah, dass andere in ihren Alltag zurück gingen."
"Ja, kenne ich."
"Ich habe es gehasst, wenn man zu mir sagte, das Leben ginge weiter, der Alltag käme wieder ..."
"Ohja ..."
"... du wirst wieder fröhlich sein und wieder herzhaft lachen können. Am liebsten hätte ich diese Menschen damals auf den Mond geschossen."
"Kann ich nur zu gut verstehen. Das "Aber", wo ist es?"
"Welches Aber? Achso, ja. Sie hatten recht."
"Ja, und? Ist das was Neues?"
"Nein. Es ist ja auch so."
"Also, wo ist dann das Problem?"
"Nur so ein Gedanke. Eine kleine Frage."
"Raus damit!"
"Was ist die Alternative zu Alltag?"
"Boah! Du stellst Fragen. Woher soll ich das wissen?"
"Denk mal nach. All-tag?"
"Hm ..... Kein-tag?"
"Richtig."
"Du spinnst. Das gibt es doch gar nicht."
"Oh doch. Gibt es. Denk mal nach, wie es damals war. Ob die Sonne schien oder ob es regnete, ob es hell oder dunkel war, warm oder kalt. Das war so was von wurscht. Nur Trauer, Schmerz und Angst. Da war nichts anderes. Der Abreißkalender hatte nichts zu tun."
"So gesehen hast du recht. Das ist Keintag."
"Trotzdem hat sich der Alltag gaaanz langsam wieder eingeschlichen. Das Leben forderte wieder Aufmerksamkeit und steuerte wieder in geregelte Bahnen."
"OK. Trotzdem. Das kann doch eigentlich nicht sein. Keintag. Deine Träume waren geplatzt, das Liebste verloren, doch der Rest der Welt, der hatte seinen Alltag. Gehört der Tot nicht dazu? Im weitesten Sinne?"
"Doch. Gehört er. Hat ne lange Zeit gedauert, das zu begreifen. Es kommt halt immer drauf an, auf welcher Seite man steht."
"Ouh mann, Helmut, komm zu Potte. Du sprichst in Rätseln. Da muss doch noch was kommen?"
"Du bist doch sonst so fix?"

"Jetzt nervst du. Ich warte schließlich nicht den ganzen lieben langen Tag auf dich und deine Probleme."

"OK, jetzt im Ernst. Ich befinde mich also wieder im Alltag. So aufregend er auch sein mag. Der Tot ist weit weg. Hoffe ich zumindest."
"Ja klar. Ich auch. Worauf willst du hinaus?"
"Was bedeutet es dann für mich, wenn in meinem Umfeld jemand stirbt? Wie jetzt geschehen. Oder, wenn ich auch nur lese bei anderen? Für mich ist Alltag, für sie ist Keintag!"
"Du stehst auf der anderen Seite."
"Genau das ist die Frage."
"Naja, nicht ganz. Du kennst die Situation auch von der anderen Seite der Grenze. Du könntest sie überschreiten."
"Darf ich das so einfach?"
"Nein."
"Stimmt. Die Folgen könnten verheerend sein. Für mich und den oder die Andere/n."
"Dabei gibt es noch was zu bedenken. Der Andere muss das auch zulassen wollen. Ohne das geht gar nichts."
"OK, und wenn er nicht zulassen will, dann steh ich doch da wie der Rest der Welt ansonsten auch? Frisch Trauernde lassen nicht zu. Sie igeln sich ein, mauern sich ein und fordern trotzdem die Hilfe der Anderen. Eigentlich ist das paradox."
"Ja, das ist so. Du weißt das doch selber ganz genau."
"Ja, leider, ich kenne das nur zu gut."
"Diese Zeit ist wichtig für den Trauernden. Er braucht sie dringend. Mal ein Bild: wie ein verwundetes Tier zieht man sich in eine Höhle zurück. Man muss Kräfte sammeln, Gedanken sortieren, die Wunden lecken. Man muss ganz unten sein um den ersten Schritt auf der Leiter nach oben aus eigener Kraft tun zu können. Wie bist du wieder nach oben gekommen?"
"Genau so. Und weil es Menschen gab, die mir ihre helfende Hand anboten. Ich musste nur zugreifen."
"OK. Dann strecke deine Hand aus."
"Verdammt schwer."
"Jou."
"Ich mach mir jetzt nen Kaffee. Willste auch?"
"Jepp."
Alles Liebe,
Helmut