AW: furchtbare Angst
Hallo Miriam,
lieb, dass du fragst. Leider ist immer noch alles weiterhin geschwollen. Trotzdem sehe ich, dass es jeden Tag etwas besser geht. Nun muss er schon mit der Physiotherapeutin und dem Rollator ein bisschen rumlaufen. Da er kaum Kraft hat, strengt ihn das extrem an, aber immerhin. Daran war letzte Woche gar nicht zu denken.
Ich freue mich auch, dass er morgen wieder auf die onkologische Station verlegt wird. Auf der jetzigen Station habe ich immer das Gefuehl, dass die Aerzte und Schwestern gar nicht auf ihn eingehen koennen. Es ist die Neurochirurgie, aber ueberwiegend sind dort Patienten mit Hand oder Fuss OPs und viele HNO Faelle. Heute war aber sein Haus-und-Hof Onkologe da (auf Draengen meiner Mutter) und hat eben gesagt, dass er auf 'seine' Station verlegt wird.
Ausserdem bekommt er jetzt langsam Schmerzmittel, nach der Kopf OP gab's nur Paracetamol, um sicherzustellen, dass er ganz und gar klar im Kopf und der Motorik ist. Er sagt, er will nicht zugedroehnt sein. Aber zwischen Paracetamol und Morphium liegt ja noch so einiges!
Was auch sehr schoen ist, ist dass seit Anfang der Woche die Schwestern meines Vaters abwechselnd zu Besuch kommen. Da er gleich 5 hat, wird es nicht langweilig. Allerdings weint er viel, und ich weiss, dass es ihm nicht recht ist, dass sie ihn in diesem Zustand sehen. Aber dann sehe ich auch, dass er sich trotzdem - nach einer Weile - darueber freut und zweimal hat er nun auch schon gelacht. Wenn auch nur kurz. Dass meine Tanten kommen hilft auch mir und meiner Mutter sehr, weil das natuerlich den Krankenhausalltag etwas unterbricht und auch mal wieder ein anderes Thema im Raum steht.
Es tut mir so leid, dass dein Papa auch so leiden musste. So viel Chemo, Bestrahlung und die allgegenwaertigen Nebenwirkungen breitgefaecherter Natur! Bis man nicht betroffen ist, ist einem weder das Ausmass und die Haerte der Krankheit noch die Masse der Betroffenen klar. Ich bin verwoehnt vom Leben, bis vor einem Jahr ist meine Welt noch nie wirklich erschuettert worden, dafuer seit dem aber immer wieder und das ordentlich. Ich bin 34. Man waechst ja mit, aber trotzdem gibt es dann Momente, da merke ich, dass ich mich gerade wundere ueber diese unwirkliche Situation, dass DAS wirklich die Realitaet ist und die Dinge fuer immer anders sind und wie das eigentlich alles so schnell passiert ist. Letztes Jahr war meine Mutter sehr krank, allerdings auf eine ganz andere Art, da habe ich schon gedacht, ich stosse an meine Grenzen. Das beinhaltete auch mehrere Wochen Krankenhaus mit taeglichen und langen Besuchen. Da dachte ich ab und zu mal, dass ich bestimmt gleich den Verstand verliere. Aber trotzdem ging es immer weiter, und es wurde immer besser, so dass ich da immer neue Energie draus geschoepft habe. Irgendwann war dann alles einfach wieder gut. Aber DAS hier, DIESE Realitaet, das ist eine ganz andere Liga mit ganz, ganz anderen Konsequenzen.
Ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, wie ein Mensch das alles ertragen kann, genau wie du sagst. Ich hab mich waehrend der Zeit der Chemotherapie mal erwischt: da hab ich echt ueberlegt, dass ich das Aushalten der Schmerzen auf diese Art und Weise so ziemlich keinem zutraue, den ich kenne. Aber wohl auch im Ertragen von Schmerzen wachsen Menschen ueber sich heraus.
Im Auto dreh ich die Musik oft voll auf und schreie einfach mit. Ich war ein paar Tage nicht mit den Hunden unterwegs, das muss ich bald unbedingt mal wieder einschieben, weil mich das auch irgendwie erdet. Der Herbst ist ja trotz grauem Hintergrundbild immer noch so bunt, und die Voegel sammeln sich alle und irgendwie ist so viel los in der Natur. Das beruhigt mich immer ganz gut, weil trotz allem die Welt doch irgendwie schoen ist. Naja, und die Hunde sind auch lustige Kerlchen.
Ja, du hast recht, man kann in dieser Situation nicht unbedingt immer laecheln. Mir hilft es sehr, dass ich mich hier austauschen kann. Es tut gut, mit Menschen zu tun zu haben, die einen verstehen koennen und die -wie du auch - trotz eigener trauriger Geschichte so sehr fuer andere da sind. Ich finde das wirklich ganz toll und bin sehr dankbar! Mir hat mal jemand geraten, dass ich eigentlich nur mit Menschen ueber Papas Krankheit reden soll, die es aufgrund eigener Erfahrungen verstehen koennen. Und er hat recht gehabt, finde ich. Allen anderen kann ich wohl Fakten nennen und ernte dann bedroeppelte Gesichter, die Leute suchen nach Worten, fuehlen sich sichtlich unwohl usw. Eine meiner Freundinnen faengt fast jedes mal an, zu weinen, wenn ich was erzaehle. Dann endet das so, dass ich sie troeste und sie sich schaemt. Und dann lachen wir, aber naja, immer hilft das auch nicht.
Miriam, vielen Dank nochmal! Jetzt habe ich auch prompt eine ganze Novela geschrieben. Aber fuehle mich viel besser! Fuehl dich gedrueckt und gute Nacht!
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