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Alt 12.07.2014, 10:51
Grisu62 Grisu62 ist offline
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Standard AW: Unsere Zukunft löst sich gerade auf

Hallo Ihr Lieben,

was ist denn hier los ? Das musste ich jetzt erst mal sacken lassen... und ich spreche jetzt bewusst niemand direkt an - soll sich jede(r) rauspicken, was passt...

Mein Mann und ich sind seit 31 Jahren ein Paar - und ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. Es fehlt mir die Vorstellungskraft, mir eine Welt zu denken, in der es ihn nicht mehr gibt... aber, als mein Vater starb, hat meine Mutter (nach 50 gemeinsamen Jahren) etwas gesagt, was ich heute erst so richtig würdigen kann: "Meine Ehe ist zu Ende gegangen, nicht mein Leben." Diese Tapferkeit und auch Offenheit für das, was noch kommen mag, ist mir jetzt ein großes Vorbild.

Denn genau so ist es: ich werde weitergehen (müssen). Ich bin jetzt 52. Auf mich warten noch hoffentlich viele Jahre, mit Erlebnissen, die meinem Mann nicht vergönnt waren: der Schulabschluss unserer Tochter, vielleicht irgendwann ihre Hochzeit... ihr Werden und Wachsen... Plätze auf dieser Erde, die wir uns gemeinsam anschauen wollten...Und manches werde ich vielleicht genau deshalb nicht mehr machen - weil es zu sehr mit ihm verbunden ist, als dass ich es allein erleben wollte. Was ich damit sagen will: ich versuche sehr bewusst, mein eigenes Leben neben der Krankheit zu pflegen, um eine Stütze zu haben für den Tag, an dem ich allein leben muss. Mein Job ist Teil dieser Welt, die auch über den Tag X hinaus bestehen bleibt, und schon deshalb versuche ich, solange es irgendwie geht, die Doppelbelastung auszuhalten. Aber ich mache ihn auch gern, er gibt mir Halt und verschafft mir Erfolgserlebnisse bzw. zeigt mir deutlicher als vieles andere, dass ich mehr bin als die Ehefrau und Gefährtin meines Mannes.

Was die Pflege angeht: ich habe vor ein paar Tagen geschrieben, dass ich mir heute sehr viel mehr vorstellen kann als noch vor sechs Monaten. Wir leben inzwischen immerhin 20 Monate mit der Krankheit und der schleichenden Verschlechterung. Ja, ich würde vieles schaffen, was ich früher für unmöglich gehalten habe, aber ich würde dafür einen sehr hohen Preis zahlen, denn ich fühle mich eigentlich mit der medizinischen Seite der Pflege schon heute permanent überfordert. Ich habe ständig Angst, etwas falsch zu machen oder falsch zu entscheiden und damit irreversible Konsequenzen zu verursachen. Eine gute Bekannte meiner Mutter hat jahrelang sehr darunter gelitten, dass sie ihrem krebskranken Mann auf die telefonische Weisung des Arztes hin die Morphiumdosis erhöht hat, um ihm die Schmerzen zu nehmen und anschließend den Krankenwagen zu rufen. Auf der Fahrt ins Krankenhaus ist er gestorben. Sie hat sich lange Jahre gefragt, ob ihre Morphiumgabe die Ursache dafür war, obwohl ihr alle gesagt haben, dass dem nicht so war... ich wäre wohl genauso...

Unsere Ärztin, die rund um die Uhr für mich erreichbar ist, hat uns sehr deutlich gemacht, dass sie als Palliativmedizinerin mit Nachdruck dafür werben will, dass mein Mann ins Hospiz geht - dort ist nämlich die medizinische Seite professionell abgedeckt und ich kann mich darauf konzentrieren, an seiner Seite zu sein, ihn zu trösten, ihn zu begleiten, für ihn da zu sein - ohne die Belastung im Hinterkopf zu haben "mache ich alles richtig". Dort habe ich rund um die Uhr die notwendigen Ansprechpartner. Und wenn ich mal eine Pause brauche, um durchzuatmen und neue Kraft zu tanken - und ohne solche Momente geht es nicht - weiß ich ihn gut versorgt und unter Aufsicht. Ich wäre also heilfroh, wenn wir das letzte Stück des Weges dort gehen könnten...

Ich habe große Hochachtung vor allen, die ihre Lieben zuhause pflegen, aber es ist für mich definitiv nicht der einzig gültige Gradmesser von Zuneigung und Zugewandtheit...

Liebe Grüße
Grisu
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"Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewißheit, dass etwas einen Sinn hat, egal wie es ausgeht." (Vaclav Havel)
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