AW: Cup-Syndrom
Liebe Renate,
ich denke, ich habe eine riesige Portion Humor in die Wiege gelegt bekommen, aber, ob Du es glaubst oder nicht: ich sitze grade hier, habe Gänsehaut und heule. All Deine Schilderungen von Mannis Befinden kommen wieder hoch, wenn ich das alles hier lese. Ich weiß ganz genau, wie es Deinem Manni gerade geht. Und das will ich nie, nie wieder nochmals durchmachen. Bevor ich mich ans Antworten begeben habe, bin ich erst mal an die frische Luft gegangen und einmal um den Block und tief durchgeatmet. Ich bin richtig aufgewühlt. Nun habe ich mir ein Alt-Bier geholt und erzähle Dir mal, wie es mir in der letzten Bestrahlungsphase ging. Wie gesagt, die ersten 30 Bestrahlungen von den 72 Gy gingen noch ganz gut. Dann wurde wirklich nur das rohe Fleisch bestrahlt. Draußen war es kalt, und wenn ich zum Auto musste und der Wind hat mir das Seidentuch gegen den Hals geblasen, klebte es fest, beim Lösen blieb die Haut hängen und das Blut floss in Rinnsalen den Hals runter. Nach der 39. Bestrahlung traf ich mit zusammengebissenen Kiefern im Edeka-Markt zwei meiner Turnschwestern, die mich fragten: "Na Geli - wie lang musst Du denn noch bestrahlt werden?" - Und plötzlich, als ich daran dachte, dass mir nur noch eine letzte bevorstand, brach alles aus mir raus. Ich konnte nur noch schluchzen: "Es ist vorbei, ich bin so gut wie fertig." - Mit der mühsamen Selbstbeherrschung war es endgültig vorbei, ich stand dort und heulte wie ein Schlosshund. Und die beiden Freundinnen haben mitgeheult. Muss schon ein merkwürdiger Anblick gewesen sein, wie wir drei Frauen im Geschäft standen und Rotz und Wasser heulten. Vorher habe ich ja nichts und niemanden an mich rangelassen und immer nur bei jedem Tröstungsversuch gedacht: "Ach, schwätzt ihr nur, ihr habt eh' keine Ahnung und versteht garnichts." Da hilft auch nichts. Ich ziehe mich zurück wie eine verletzte Katze. Die will auch nicht gestreichelt werden, wenn es ihr schlecht geht. Vor allem kann man sich in dieser Situation überhaupt nicht vorstellen, dass sich dieser Zustand jemals wieder bessert. Das konnte mir auch keiner einreden. Es heißt nur: Augen zu und durch.
Die letzte Bestrahlung war in der ersten Februarwoche in diesem Jahr. Bei raipa z. B. haben sich die Beschwerden wohl viel schneller gebessert als bei mir. Überhaupt habe ich festgestellt, dass männliche Haut wesentlich widerstandsfähiger ist als unsere zarte Schicht. Erst vor kurzem habe ich angefangen, wieder Speisen als solche identifizieren zu können. Euer Weihnachten/Silvester wird auch mit Salbei gefeiert werden, nehme ich an. Aber ehrlich: Weihnachten 2006 ist auch bei Euch wieder Sekt angesagt. Raipas humorvolle Ausführungen kommen auch aus der bösen Erfahrung der Therapie. Der mag das auch nicht wiederholen. Da bin ich mir ganz sicher. Wir wissen, was auf Manni noch zukommt mit Mundtrockenheit, Geschmacksverlust, Kälteempfindlichkeit usw., aber wir können Euch nur sagen: wir haben's überstanden, und Manni wird das auch tun.
Och Gottche, was sind da schon die paar Barthaare, die mal 'ne Weile fehlen? Ich habe als Belohnung meine Halsfalten weitgehend verloren. Dank Radio/Chemolifting. Andere geben ein Heidengeld für so eine Schönheitschirurgieaus, ich bekam es anstandslos von der Krankenkasse bezahlt. In den letzten zwei Wochen hatten es meine letzte Zimmernachbarin und ich geschafft, zusammengelegt zu werden (harter Kampf mit der Station), und sie (Edith) hat zur gleichen Zeit mit der Halsbestrahlung angefangen wie ich und hatte auch 40 Termine. Ihre Hinterkopfhaare gingen zuerst aus. Als ich ihr sagte, wie Scheiße sie aussieht, wenn sie die Haare von hinten fönt (sie hatte langes Haupthaar, da fiel der untere Haarausfall gar nicht auf), meinte sie, da sollte ich mich erst mal mit meinem Kurzhaarschnitt von hinten im Spiegel angucken, ich sähe ja aus wie Karl Napp. Oh, wie Recht sie hatte! Ich hatte nur noch ein Käppi auf. Morgens hat sie mich immer begrüßt mit "Gudde Morsche Kall". Dass wir zusammen waren, hat uns beiden sehr geholfen. Ihr Mann hat ja so sehr mit uns gelitten. Er fing immer gleich an zu heulen, wenn er zu Besuch kam: "Ach Gottachgottachgott, ihr armen Mädchen - was müsst Ihr alles durchmachen". Das Elend konnte er kaum ertragen. Wir haben ihn dann immer versucht, ihn aufzuheitern ("Ooooch, du aaarmer, aaarmer Matthias - muddu doch net heule...!") und Edith war richtig froh, dass sie sich zum Schluss doch noch dazu aufraffen konnte, stationär zu bleiben, weil sie es einfach zu Hause nicht mehr ausgehalten hat mit dem Mitleid. Im Doppelpack waren wir auch für die Ärzte richtig gut zu ertragen. Bei der Visite waren wir immer zuletzt dran, obwohl unser Zimmer mitten in der Flurreihe lag "Damit ich einen positiven Feierabend haben und mich zum Schluss nochmal bei Euch über die andern Patienten ausheulen kann" meinte unser Stationsarzt.
Glaub' mir, Renate, alles wird besser! Gelle, raipa??? Die Tipps von ihm sind richtig: Zitronen und Fruchtsäfte, Alkohol etc. meiden. Aber das hat er schon selbst gemerkt. Schließlich bleibt eigentlich nur das Fresubin. Das muss halt runter. Sonst geht Manni runter (mit dem Gewicht). Jetzt noch die PEG-Sonde einzusetzen ist natürlich Quatsch. Der Eingriff wäre im jetzigen Zustand nur eine Zusatzquälerei. Ich wünsche Manni jedenfalls, dass er sich ähnlich schnell wie raipa erholt. Und immer dran denken: die Zeit geht rum, und dann immer aufwärts. Ich versprech's ihm!
Üüüübrigens:
@Bärbel: danke nochmals für Deinen Tipp mit der Lactulose. Regelmäßig eingenommen hilft es endlich wirklich. Zusätzlich bekomme ich noch MCP-Tropfen. Siehste: SO muss 'n Darm aussehn, dann klappt's auch mt dem ... (äh) Stuhlgang!
@ Anna: ich hatte eine spannende Schilderung vom Kopenhagenaufenthalt erwartet. Mensch! Das nächste Mal machste das besser, gell? Ich wünsche Dir herzlich, dass endlich eine Besserung eintritt! Mach' mal hinne!
Und was ich heute
Übrigens
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