Forum für Angehörige UND Betroffene
Hallo Ihr Lieben,
Hallo Petra2, ich möchte Dir sagen, dass ich (als Betroffene) überhaupt nicht wütend auf Deine Wut sein kann. - Ich glaube, wir sind alle immer wieder wütend, ob wir nun Betroffene oder Angehörige sind, oder?
Es freut mich übrigens sehr, dass Dich meine Geschichte (Du meinst den Vergleich mit dem dunklen Raum und dem Mörder darin, gell?) zum Nachdenken angeregt hat. So krass dieser Vergleich auch ist, hat er doch irgend was Wahres. Ich glaubte und hoffte, als ich diesen Vergleich hier mal hingeschrieben habe, den einen oder anderen Angehörigen erklären zu können, WIE es in etwa ist, Krebs zu haben. - Es ist aber ja auch wirklich schwer in Worte zu fassen.
Jedenfalls: Ës stimmt, während sich der Betroffene in diesem dunklen Raum mit dem "Mörder" zusammen aufhält, es weder Fenster noch Türen gibt, ... stehen die Angehörigen, Freunde und Bekannte alle draussen. Draussen, VOR dem dunklen Raum.
Mir hatte mal ein Bekannter gesagt, (weil ich mehrmals wiederholte, er könne einfach nicht VERSTEHEN!): "Du lebst mit Deinem Krebs in einer ganz anderen Welt. Diese Welt kann ich nicht nachvollziehen."
Irgendwie tat mir das weh, aber ich musste ihm gleichzeitig auch Recht geben.
Denn so, wie sich der Betroffene in dem dunklen Raum befindet, dauernd in der Nähe des Mörders, ... können es die Angehörigen von Draussen nicht wirklich nachvollziehen.
Sie haben lediglich Angst um ihn. Grosse Angst. Sie "wissen" nur, dass er da "drinnen" ist. Zusammen mit einem Mörder. Sie können es nicht mal wirklich "sehen", wie er sich windet und ängstigt, denn es gibt keine Fenster und Türen. Sie können diese Dunkelheit nicht "fühlen", wie ER sie fühlt. Sie können SEINE Wut nicht "spüren", wie ER sie spürt.
Denn sie stehen da draussen, richtig.
Die Wut der Angehörigen ist ein wenig eine andere. Es ist eine Wut auf die Situation, auf die Krankheit selbst, eine Wut, weil man Angst hat, den Lieben verlieren zu können, eine Wut, überhaupt mitansehen zu müssen, dass er sich in diesem "Raum" befindet. Eine Wut, dass man den Raum gar nicht betreten kann. Eine Wut, wenn der Betroffene dort drinnen schreit vor Wut. - Manchmal auch Wut, wenn man mitansieht, wie andere Bekannte oder Freunde sich von diesem verschlossenen Raum abwenden!
Aber jene Angehörie, welche vor diesem verschlossenen Raum verharren und DA sind, ... bedeuten für den Betroffenen sehr viel. Auch wenn er nur ihre Stimme von "draussen" vernehmen kann. Er fleht und weint, (meistens nur sehr leise, vielleicht aber auch mal laut) dass sie bitte draussen stehen bleiben mögen, wenn sie nur in der Nähe bleiben, auch wenn sie diesen Raum nicht betreten können! Und er kriegt es ganz genau mit, WER sich da draussen vor dem verschlossenen Raum abwendet!
Stockfinster. Der Betroffene kämpft. Im Dunkeln. Gegen wen? Gegen einen Mörder, welchen er nicht sieht. Gleich erwischt ihn der Mörder!
Da ist er absolut sicher! - Er ruft laut, damit ihn die Angehörigen draussen hören können: "Ich sterbe bald! Gleich bin ich dran! Besorgt schon mal meine Beerdigung!"
Aber am nächsten Tag ist er sich da doch nicht mehr so sicher. Der Mörder sitzt irgendwo in einer Ecke, und scheint ihn in Ruhe zu lassen!
Der Betroffene ruft laut nach seinen Angehörigen draussen: "Haha, ich glaube, mir geht's gut!"
Kannst Du verstehen, wie ich es meine, Petra2? Dieses Auf und Ab, das Betroffene empfinden können, diese ewige Qual, welche zwischen Aufgeben und Kämpfen wechselt?
Beim "Aufgeben" ist es eine ungeheure Wut, die entstehen kann. Es ist eine Aggression, die nach Aussen gerichtet werden kann. Manchmal MUSS sie sogar nach Aussen gerichtet werden. Zu den nahen Angehörigen. (So unfair es auch ist.) SIE sind die nächsten, die da sind, ... und die Wut muss RAUS, sie raubt einem den Atem, sie macht einen kaputt.
(Also, ich persönlich habe mir ja einen Boxsack angeschafft, ... aber das nur nebenbei!)
Jedenfalls, ich kann mir sehr gut vorstellen, dass diese Wut, die Dein Angehöriger da raus lässt, sehr verletzbar ist und Dich selber wütend macht. Und wenn diese Wut auch noch Kinder spüren müssen, so ist das schon sehr krass.
Ich denke aber nicht, dass er sich in diesem Augenblick der Wut bewusst ist, dass ER Rücksicht nehmen sollte. Er kann gar nicht anders, als die Wut raus lassen, weil er so sehr mit seinem Mörder und seiner eigenen Verzweiflung kämpft, ... dass ihm in diesem Moment die eigene Wortwahl eigentlich egal ist.
Betrachte es vielleicht als Vorteil, denn es ist immer noch besser, dass er seine Wut zeigt, als wenn er dafür seinen "Stoff" benötigt.
Zeige ihm einfach, dass Du DA bist, wenn er solche Augenblicke erlebt, zeige ihm, dass Du ihn verstehst. Lass seine Wut zu, auch wenn er noch so gemeine Sachen raus lässt. Fühle Dich nicht persönlich angegriffen, ja? - Ich glaube, das wird ihm in solchen Momenten am besten helfen.
Und wegen den Kindern, ich weiss nicht, wie alt sie sind, Petra2, aber damit es sie nicht ganz verwirrt und ängstigt: Vielleicht ein paar Gespräche mit ihnen führen, um ihnen Verständnis zu geben und die Angst ein wenig zu nehmen?
(Ich bin zwar keine Psychologin, oder Kinderpsychologin, ... aber ich kenne so etwas aus meiner eigenen Kindheit - von meinem Grossvater - und das hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt, ... weil meine Eltern immer sagten: "Das IST halt so!", statt dass sie mir ein bisschen mehr erklärt hätten oder versucht hätten, mir meine Ängste ein wenig zu nehmen.)
Es ist aber NICHT alles erlaubt, für den Kranken, Petra2, das meine ich mit meinem - wieder mal langem Eintrag hier - nicht. Ich denke, Du darfst ihm sicher sagen, dass er, wenn er so wütend ist, wenigstens ein bisschen Rücksicht auf die Kinder nehmen sollte.
Und auch "Beleidigungen" oder solche Sachen musst Du ja nicht akzeptieren. Sage ihm das einfach freundlich und deutlich.
Ich umarme Dich jedenfalls ganz fest, und ich weiss, Dein Partner ist Dir ganz gewiss sehr dankbar, für alles was Du für ihn tust. Denn er braucht Dich, da draussen ...
Ganz, ganz liebe Grüsse
von der "krassen" Brigitte
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