AW: Stammtisch
Kleine Frage große Wirkung. Du sag, geht es Dir schlechter als vor einem Jahr? Ja, es geht mir schlechter, vielleicht wegen dem gestern. Vielleicht weil alles so endgültig ist, vielleicht weil ich das Gefühl schon so lange vermisse?
Gestern erzählte mir meine Schwägerin, daß Jürgens Bruder im Krankenhaus lag, auf Intensivstation, etwas mit der Bauchspeicheldrüse. Ich war komplett durch den Wind. Hab mir tausend und eine Frage gestellt.
Warum melden sie sich nicht? Das ist doch schon eine besondere Situation. Was mach ich jetzt? Und dann klang mir es noch vom letzten Herbst im Ohr „… wenn es um den Tod ginge, dann würde ich informiert werden ….“ Danke. Also, es geht nicht um den Tod. Und doch kommt jeder Mensch jeden Tag seinem Tod einen Tag näher – aber ja, es geht nicht um den Tod.
Das Ganze hat mir keine Ruhe gelassen und so hab ich mich heute „schlau“ gemacht mit meinen tausend und eine Frage. Was würde jetzt Jürgen machen? Würde er sich schütteln und losrennen? War nicht immer so unser Weg? Und dann das ganze letzte Jahr!?! Wie war das noch mit dem Verzeihen? Obwohl es so weh tut? Muß ich alles einfach hinnehmen, ohne aufbegehren? Darf ich nicht das richtig stellen, was mir am Herzen liegt?
Während der Pflegezeit hörte ich von Jürgens Bruder, daß er das so nicht möchte. Wenn Jürgens Bruder ein Pflegefall wäre, möchte er in ein Pflegeheim. Nach dem Tod von Jürgen hörte ich von ihm, daß er nicht in der Wohnung weiterleben könnte. Ich hab das richtig gestellt. Nein, Jürgen verlangte das nicht von mir. Vielmehr sprachen wir im Januar darüber und Jürgen meinte, ich solle ihn in ein Hospiz geben. Ich gab meinem Jürgen zur Antwort, daß er hier bleiben würde, hier bei mir. Er sagte zu mir, daß ich nicht wüsste wovon ich rede. Nein, ich wusste es nicht – hab es aber trotzdem gemacht. Jürgen war hier bei mir. Nie habe ich so ausschließlich für ihn gelebt. Zum Glück wurde ich von heute auf morgen von meinem Arbeitgeber freigestellt und konnte mein Versprechen halten. Und im zurück schauen war diese Zeit für mich so wichtig. Ich würde es wieder machen. Nur für ihn leben ohne wenn und aber. Die Wohnung hier, in der Jürgen seine letzten Stunden verbrachte, diese Wohnung ist mein Nest, meine Schutzwall gegen den Rest der Welt. Warum sollte ich hier weg?
Beim Heimweg von der Arbeit habe ich einen Kumpel von Jürgens Bruder getroffen und hab dann einfach gefragt. Es ist eine Bauchspeicheldrüsen-Entzündung. Entwarnung? Keine Ahnung. Irgendwelche Aktion von mir? Nein – Pusteblume. An dieses „nie wieder“ werde ich mich halten. Keine Aktion von mir aus, mich einfach wegducken. Offensichtlich wollen die Beiden es so.
Warum geht es mir schlechter als vor einem Jahr? Weil ich immer noch bockig bin, weil ich so viel nicht wirklich möchte? Weil ich mich im Moment ständig und ständig nur im Kreis drehe? Gedanklich neue Päckchen schnüre- und doch nicht wirklich weiterkomme?
Die Frage meiner Kollegin heute. Wann ist ihr Mann gestorben? Ja, es ist schon vorbei, die von außen betrachteten „schweren“ Tage sind schon vorbei. Als sie hörte, daß es „schon“ einen Monat vorbei ist, daß ich gerade den Tag der Diagnosestellung hinter mich gebracht habe, war nur Schweigen. Tat es ihr leid, daß sie nicht daran gedacht hat? Das es dieses Jahr von außen gesehen ein ganz „normaler“ Tag war. Und ja, doch, es hat mich schon gekränkt, daß keiner bei der Arbeit daran gedacht hat, ja, es hat mich sehr gekränkt.
Sie erzählte mir später, daß bei der Trauerfeier schön warm war, die Sonne hat ihr ins Gesicht gelacht.. Ich habe andere Erinnerungen, ich hatte eine Strickjacke über dem Pulli und mir war nicht warm. Erinnerungen … Den Rums in der Kirche, als ein Kranz nach unten krachte. (ich bin fest überzeugt, Jürgen wollte daß ich tief Luft hole und damit keinen Grund zum tratschen gebe – daher der Rums) Die Worte des Pfarrer (Finis vitae, non amoris) und dabei hatte ich ihm nicht wirklich viel erzählt. Der lange Weg zum Friedhof hinter der Urne – so ein langer Weg. Wie ich die rosa Rosen auf die Urne knallte … Dann sein Name auf seinem Kreuz....
Furchtbar schlechte Stimmung bei der Arbeit und mal wieder kommen die Gedanken. Ich hätte nicht zurückgehen sollen, hätte mir doch besser etwas Neues gesucht. Ich bin den bequemen Weg gegangen und auch das muß ich aushalten … oder ändern.
Wenn Jürgen jetzt noch bei mir wäre, würde er ganz sicher sagen, ja, mach doch. Kündige und such dir was Neues. Tja, Herzele, so einfach ist das nicht mehr, ich muß irgendwie das Geld fürs Leben verdienen und offensichtlich ist auch der Weg recht mühsam.
Ja, ich hab ein oder zwei Schlückchen getrunken – eine Alternative wären Jürgens Tavor gewesen, die ich immer noch habe. Dann lieber en Schlückchen zuviel. Und ja, morgen ist ein neuer Tag, vielleicht ist es dann wieder besser ….
Bruni
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