AW: Stammtisch
Der Urlaub hat gut getan. Viele Gedanken und Gefühle neu sortiert, mit vielem Frieden geschlossen. Kurze Zeit hat es sich angefühlt, als hätte ich mich ein gutes Stück vom Trauerloch entfernt. Fast zwei Jahre später, Licht in Sicht?
Heute hänge ich da, ganz tief unten, wie in Anfangszeiten der Trauer, Kloß in Hals und Magen, Chaos im Kopf.
Ich kenne die Ursache, natürlich, die ist klar definiert. Und ich kenne auch den Auslöser, nur den Weg, diesen erneuten Zustand, dieses erneute Hinterfragen unbeschadet zu überstehen, meine Kraft und meine Lebensfreude der vergangenen Wochen nicht zu verlieren, den sehe ich im Augenblick noch nicht.
Ja, der Urlaub hat gut getan. Meine beiden jüngeren Kinder so glücklich und zufrieden zu erleben, ihren Segen für mein neues Leben zu spüren, die Freude darüber, eben gerade, weil es auch ihr Leben betrifft und sie erahnen konnten, dass mit der Veränderung auch für sie, für uns alle wieder mehr Freude, mehr Spannung, mehr Lebensmut und Abwechslung in unser Haus einziehen würde.
Der Älteste eher teilnahmslos, ohne Kommentar, weder positiv noch negativ, eher egal, solange es ihn nicht beeinträchtigt. So kommt es rüber. Aber keinesfalls Vorwürfe, Enttäuschung oder ähnliches.
Nun ist da noch meine große Tochter und sie macht mir große Sorgen im Augenblick. Fühle mich hilflos in dieser Situation. Jedes Wort falsch? Sie hat ihren Traumjob bekommen, alles ist nach Plan gelaufen trotz des Verlustes, trotz des Schmerzes und aller Tränen bei uns zu Hause. Nun ist sie seit Juli auf Mallorca und das Tier fällt sie ständig an, sie ist regelrecht verzweifelt über die Heftigkeit des Schmerzes. Wieso (erst) jetzt? Sie ist wütend – auch auf mich – sie stampft auf und will das alte Leben zurück, das, das wir alle nicht aufgeben wollten. Tja, wieso jetzt?
Es ist ein so harter und langer Weg, bis man wenigstens einigermaßen damit umgehen kann. Jeder trauert anders, aber ich fürchte, den Schmerz aushalten müssen wir alle früher oder später, man kann nicht davonrennen. Und irgendwie davongerannt ist sie, wenn auch nicht bewusst, wenn auch durch den Zwang der Schule und Clique, die ständig Zeit forderte, die ständig Fahrten und Feten veranstaltete u.s.w. Was zunächst gut erscheint, nicht alleine sein zu müssen, kann mitunter aber ganz einfach von den eigentlichen Problemen ablenken. Ist das so? Hat sie im Augenblick, so weit von zu Hause entfernt einfach zuviel Freiraum für ihre Gedanken?
Seit fast zwei Jahren schreibe ich hier beinahe täglich. Sämtliche Phasen habe ich festgehalten. Wut, Verzweiflung, Angst. Wir haben uns unterhalten über die Bedeutung unserer Eheringe, über die Freunde, die sich abwenden, über Nichtigkeiten, mit denen wir belästigt werden. Wir haben auch von unseren Schuldgefühlen gesprochen, darüber, das Gefühl zu haben, versagt zu haben. Auch von möglichen neuen Beziehungen, wie ein Leben nach dem Tag X aussehen kann. Ich habe mit euch gemeinsam viel für mich aufarbeiten können, einiges überstanden, meinen Blickwinkel wechseln können, Frieden schließen, habe begonnen, zu akzeptieren – nicht zu verstehen – auch nicht loszulassen, aber zu versuchen es hinzunehmen und aus dem Rest das Beste zu machen, vor allem es machen zu dürfen.
Saski steht am Anfang, das wurde mir gestern bei unserem langen Gespräch klar. Sie fängt tatsächlich jetzt erst mit der Trauerarbeit an und ich bin nicht bei ihr. Sie ist einsam, aber nie wirklich alleine, als Animateur bist Du Allgemeineigentum, keine Chance außer in ihrem winzigen Zimmer. Keine Geschwister, keine vertraute Umgebung und wir telefonieren und sie weint fürchterlich und mir bricht das Herz, weil ich sie nicht umarmen kann. Was soll ich ihr sagen? Wie kann sie mir glauben, dass der Schmerz noch immer in mir ist, auch wenn es mir besser geht, auch wenn ich wieder Zukunftspläne schmieden möchte. Wie kann sie mir glauben, dass es ok. ist.. Wie kann sie mir glauben, dass ich niemals ohne ihren Papa leben werde, auch wenn ich nicht mehr mit ihm leben kann. Ich konnte es doch in der Phase auch nicht glauben, wollte es noch nicht einmal hören.
Vielleicht fühlt sie sich aber auch irgendwie übergangen. Die anderen bekommen alles hautnah mit, sie ist so weit weg, hört nur am Telefon was bei uns los ist, aber erlebt es nicht und ausführliche Erzählungen, dafür reicht die Zeit nicht.
Und ich sitze da und habe mal wieder das Gefühl, zu versagen. Das Schild, „ich darf das jetzt“ hochgehalten, glücklich, ehrlich von ganzem Herzen glücklich, dass sich mein Leben wieder gut anfühlt und seit gestern dieses schlechte Gewissen. Darf ich es wirklich?
Und auch ein kleines bisschen Ärger ist dabei. Muss ich mich für meine Gefühle rechtfertigen? Das hatte ich in meinem alten Leben. Mein Vater hat nie verstanden, wieso ich mit Claus glücklich war. Ich hatte immer das Gefühl, es ihm erklären zu müssen. Das passiert mir in meinem neuen Leben nicht noch mal, auch nicht mit meinem Kind.
Ja heute bin ich wieder total verzweifelt, stelle wieder alles in Frage und dabei hatte ich schon fast vergessen, wie sehr der Kloß in Hals und Magen drückt, wie weh es tut und wie sehr er Dich ausbremst.
Geht’s mir nach dem langen Beitrag jetzt besser? Nicht wirklich. Aber vielleicht schupst der ein oder andere mich zur Seite, macht mir den Blick wieder frei, damit ich sehen kann, was ich tun soll.
LG
Andrea
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Που να 'σαι τώρα που κρυώνω και φοβάμαι
και δεν επέστρεψες
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