AW: junge Frauen und der Tod der Mutter
Hallo allerseits,
natürlich ist es Flucht. Das Funktionieren der ersten Tage, Wochen oder Monate ist auch Flucht. Ein Teil von uns weigert sich schlicht, am Leben teilzunehmen. Sternchen, du hast es so "schön" als 'lethargischer Zombie' umschrieben, wenig schmeichelhaft, aber treffend...
Mir kam es manchmal so vor, als "würde ich neben mir stehen", als würde ich irgendwie einen mir merkwürdig bekannten weiblichen Roboter beobachten, der Arbeiten verrichtet, die irgendwie für mich Bedeutung hätten haben sollen, nur hatte ich vergessen, warum. Ich war irgendwie Zuschauer und wußte nicht recht was all das um mich herum bedeuten sollte. Ich tat die Dinge, die ich kannte, mechanisch, emotionslos, aber effektiv wie immer.
Mir ging es nach einigen Wochen nicht langsam wieder besser, sondern Stück für Stück fielen mir alltägliche Dinge immer schwerer. Das Denken fiel mir schwerer, die Konzentration auf schwierigere Inhalte, auf Neues, wurde allein fast unmöglich. Ich habe Texte 5x "gelesen" und dennoch erreichte kaum ein Wort, kaum ein Satz mein Bewußtsein. Solange ich in Gesellschafz anderer Menschen war, solange habe ich mich einigermaßen normal verhalten, kaum war ich allein, gleichte ich einem Ballon, dessen Gas entwichen war und der starr und regungslos in seiner Position verharrte.
Zwei "Freundinnen" (damals 18 und 19 Jahre alt) haben sich von mir abgewandt. Sie wußten wohl nichts mehr mit mir anzufangen. Zuvor war ich immer ein sehr fröhlicher und lebenslustiger Mensch gewesen. Kein Problem, dem ich nicht eine positive Seite hätte abringen können. Ein aufmerksamer und geduldiger Zuhörer. Nun empfand ich ihre Probleme als bedeutungslos. Sie weinten über eine schlechte Note, über den Skilehrer, der sie wohl nur attraktiv fand, aber nicht mehr wollte oder wollten stundenlang den Stress mit einem Lehrer thematisieren. Mit solchen Themen ließ sich eine der beiden tränenüberströmt in meine Arme kippen. Ich stand fast schon angewidert und ungläubig da - eine Woche zuvor hatten wir meine Mutter begraben - und fragte mich, ob die Situation nicht umgedreht normaler gewesen wäre, ob es nicht ihre Aufgabe gewesen wäre, mich zu fragen, wie's mir geht, mir Trost anzubieten.
Nur zwei meiner "alten" Freunde sind aus dieser Zeit übriggeblieben. Sie haben mich nicht wie eine Aussätzige behandelt. Wenn auch ihre Antworten "nur" aus schweigendem Zuhören bestanden, sie haben die Herausforderung des Zuhörens angenommen, sind nicht geflüchtet.
Alle Gleichaltrigen waren gnadenlos mit der Situation überfordert. Schiefe Seitenblicke, Samthandschuhe, aufdringliches Bemitleiden wollen waren die Zeichen ihrer Hilflosigkeit, ihres Unverständnisses. Doch warum sollte ich es ihnen vorwerfen, bedeutend ältere Menschen haben nicht weniger unreif bis taktlos gehandelt.
"Freunde" haben sich abgewandt. Das war sehr schmerzhaft. Doch die, die übrig geblieben sind - und auch die, die ich erst durch den Tod meiner Mutter kennen- und schätzengelernt habe, von diesen Freunden weiß ich, dass ich mich auf sie verlassen und auf sie bauen kann. Sie haben mir mehrfach gezeigt, dass sie sich mutig neben mich stellen, meinetwegen, obwohl(!) sie Angst haben. Sie haben mir gezeigt, dass gemeinsames Schweigen tröstender sein kann als tausend wohlgesetzte Worte.
Andere haben mich gelehrt, Menschen besser einschätzen zu können. Ich habe gelernt, hinter die Fassade zu schauen, Heuchelei von echter Herzensgüte besser zu unterscheiden, Feigheit und Mut.
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