Thema: Stammtisch
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Alt 09.09.2007, 22:26
Blue Blue ist offline
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Standard AW: Stammtisch

Ich war 17 Jahr als mein Vater starb, steckte in der Schule wirklich zwischen den Abschlussprüfungen. Deutsch war schon geschrieben, ein Aufsatz, der Titel ist mir entwischt. Englisch sollte eigentlich Montags dran kommen und Mittwoch war dann Mathe. Montag haben wir (mein Zwillingsbruder und ich) ausgesetzt und nachgeschrieben – Mittwoch waren wir bei Mathe wieder dabei. Ich weiß nur noch, daß ich mich beim Mittagessen mit meinem Vater über den Aufsatz gefetzt habe. Weil klar, ich schon aus reinem Protest grundsätzlich anderer Meinung war wie er. Der nächste Tag war eigentlich nur zum absitzen in der Schule. Die Tür vom Klassenzimmer ging auf, der Lehrer von Kunst kam zur Tür herein, rief unsere Namen auf. Wir sollten raus kommen, wir müssten sofort nach Hause.

Zu Hause angekommen lag mein Vater auf dem Sofa. Seine letzten Worte zu mir waren auf den ersten Blick nicht unbedingt nett, auf den zweiten Blick eigentlich recht typisch für das Verhältnis das wir hatten. Da lag er nun, mein Vater. Auf einmal atmet er nicht mehr, liegt regungslos da – einfach so. Von heute auf morgen. Herzinfakt, der 3. Einfach so. Im nach hinein, nach dem so viele Jahre vergangen sind, würde ich gerne mit ihm reden, würde fragen wieso so, warum nicht anders? Über die vielen Jahre habe ich meinen Frieden damit geschlossen. Ich hätte ihn gerne jetzt gekannt, hätte ihn gerne zu diesem oder jenem gehört. Und keine letzten Worte als Teenager der eh auf Konflikt mit allem war.

Jahre vergingen, ich mußte meinen Frieden damit schließen. Die letzten Worte klingen noch immer in meinem Kopf, ich habe seinen Geruch in der Nase. Seinen Geruch finde ich jeden Tag bei der Arbeit wieder. Ein Geruch von Motorenöl, von schwarzen Fingern, von Schmiere. Heute kam der Duft ganz unverhofft, ich holte tief Luft und sagte, dieser Geruch wird mich für immer an meinen Vater erinnern. Hab ich dort je von meinem Vater erzählt? Sicher nicht meine Erinnerungen.

Jahre später, mein Großvater war ein Pflegefall, so wie alte Menschen nun mal sind, oftmals bruddelig. Ich kam angescheppert, legte mich in sein Bett und plapperte und plapperte. Oh, er ist wieder mal im Krankenhaus, dann gehe ich eben dorthin. Oh, er kam aus dem Mehrbettzimmer raus – keine Gedanken warum wohl. Jeden 2. Tag fuhr ich die Strecke zu ihm, insgesamt 90 km, nebenbei ging ich arbeiten. Wollte irgendwie da sein. Mein damaliger Chef fragte mich, warum ich mir das antue. Ja, warum tut man sich das an? So truddelte ich bei ihm ein, obwohl ich Geburtstag hatte. Saß mit meiner Mutter zusammen an seinem Bett, erzählte und plapperte, die Zeichen wollte/konnte ich nicht sehen. Eine Krankenschwester kam ins Zimmer, es würde zuende gehen. So sah ich ihn an meinem Geburtstag sterben, der letzte Atemzug, so mühsam. Und ich nahm mir fest vor, soetwas nie wieder zu sehen.

Meine Großmutter starb ein Jahr später – ich hatte meinen Vorsatz gehalten, obwohl es nicht in meiner Hand lag. Auch bei ihr hielten wir Nachtwache und es mußte wohl so sein, daß ich in ihrer letzten Nacht nicht bei ihr war.

Es kam eine stabile Zeit, dann wurde mein Jürgen krank. Gliomatosis Cerebri – trotzdem 5 gute, ehrliche Jahre. Jahre ohne wenn und aber. Nach Jürgens 8 Monaten Chemo starb seine Mutter, sehr überraschend, war auf einmal nicht mehr da. Jürgens Worte klingen in mir an genau diesem Tag. An diesem Silvester ging ich tatsächlich ins Bett und hab den ganzen Lärm verpennt – wie ich es schon jahrelang angedroht hatte. In Jürgens letztem Herbst starb der Lebensgefährte seiner Mutter – nein, nicht überraschend. Jürgens letztes Jahr war mit Abstrichen, vieles war nicht mehr möglich und doch war es unser Leben ganz und gar. Mein Jürgen starb am Geburtstag meiner Mutter. Ihren Geburtstag werde ich nie wieder an diesem Tag mitfeiern, wie sollte das auch gehen?!

27 Monate sind vergangen in dem ich viel „durchfühlt“ habe, viele Zweifel in mir und unendlich viele Fragen. Nach einem schönen Sommer schaue ich zurück auf die Zeit – wo ist sie nur geblieben? Saß heute Abend mitten im Tumult und Jürgens Schwester fühlte was in mir vorgeht. Straßenmusiker stellten sich auf und spielten ihre Musik, mein Schwager mit Hund kam – klar, war so abgesprochen. Worte kamen mir in den Sinn und viel verdammt noch nochmal. Klar, wieder spezielle Bilder für den Geburtstag gemacht, mal wieder mit dem spitze Zeigefinger auf die Brust gepieckst, schick mir das Ganze doch endlich mal….

Blickkontakt, gelacht, gerunzelt, geflirtet?

Ich lebe im jetzt, nicht im morgen. Ich bin hier, ich suche nichts und möchte manche Erlebnisse so ganz einfach nicht mehr erleben. Klar, habe ich irgendwie sortiert und zur Seite gelegt – aber es reicht mir für die nächsten 100 Jahre.

Urknall, Lebenbuch, was auch immer.

Kommt gut durch die Nacht.

Bruni

Geändert von Blue (09.09.2007 um 22:30 Uhr)
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