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Alt 22.10.2007, 11:26
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Linnea Linnea ist offline
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Registriert seit: 18.07.2007
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Standard AW: habe heute chemo-und strahlentherapie begonnen

Liebe Leena,

eigentlich wollte ich ja schon gestern meinen Senf zur Bratwurst bringen. Ich hoffe Du verzeihst die Verspätung. Mein Tag war gestern vielfach durch liebe Besuche unterbrochen, so daß mir schien, ich hätte keine Zeit für einen längeren Besuch hier bei Dir. Es reichte gerade, um bei einem Nachbarn ein gut verschnürtes, kompaktes Paket abzugeben und bei einem anderen kurz am Fenster zu winken...

Genaugenommen bin ich auch schon öfter zu Deinem Haus hier gegangen, habe im Vorgarten gestanden und überlegt, wie ich Dir vielleicht nahelegen könnte, nicht auszuziehen. Dann habe ich gedacht, daß ich das wohl nicht darf, daß es jedermanns eigener, freier Entscheidung überlassen sein sollte, wann er ein Haus wieder verläßt.

Und dennoch regt sich mein Egoismus immer mehr, der sagt: Bleib doch bitte hier! Ich bin noch recht neu in dieser Gegend und kenne mich noch nicht so aus. Deine Erfahrungen sind so wertvoll für mich.

Wo der Bäcker ist und wo der Metzger hat man mir beim Einzug - eine Parallelstraße weiter, Du weißt schon - gleich gesagt. Die Grundversorgung ist also gesichert. Und auch den Dachdecker kenne ich bereits, der allerdings bei diesen winterlichen Temperaturen eine Weile brauchen wird, um meinen Dachschaden notdürftig auszubessern.

Sachinformationen können einem viele Menschen geben, auch solche, die selbst gar nie in dieser Gegend gelebt haben: Sie schlagen einfach den Stadtführer auf und sagen: Die Straße, in der Sie jetzt leben, zeichnet sich durch diesen besonderen Baustil aus. Und Kinderbetreuung gibt es - laut Stadtplan - da drüben. Aber die Erfahrung, wie es ist, in dieser Stadt zu leben, haben sie nicht gemacht und können nur vom Hörensagen etwas Vages mitteilen.

Du und auch Nikita und viele andere hier - Ihr gehört zu denen, die wissen, was es bedeutet, hier Bürger zu sein. Ihr habt nicht vergessen, wie Ihr Euch am Anfang gefühlt habt, völlig fremd in dieser neuen Umgebung (es ist tröstlich für neu Hinzugezogene davon reden zu hören). Ihr wißt auch, wie lang die dunklen Winter hier sein können (alle, die aus den mittleren Breitengraden hier heraufgezogen sind, haben damit zu kämpfen und schöpfen Mut aus Euren Worten, denn Ihr wißt, was jetzt guttut).

Nicht zuletzt verhindert Ihr hier in dieser Stadt vielleicht sogar eine Massenhysterie, denn was würde wohl passieren, wenn nur Neulinge hier zusammenwohnten? Alle würden herumirren und sich gegenseitig verunsichern. Nach und nach würden alle zu glauben beginnen, daß dieser Winter nie ein Ende nimmt. Nicht auszudenken!

Was mir aber persönlich an Euren Erfahrungen ganz ganz wichtig erscheint, ist dies: Nicht nur zu hören, daß der Frühling wiederkehrt, sondern auch, wie anders er ist als in der Heimatgegend.

Und daß der Überfall zwar vorbei ist, die Polizei da war und alles geregelt hat, aber die Angst vor dem Räuber noch nicht verschwunden ist. Wird er wiederkommen? Vielleicht bricht er aus dem Gefängnis aus (diese Einrichtungen scheinen hier nicht sehr sicher zu sein)? Und so gut es ist zu wissen, daß die Polizei regelmäßig ums Haus patroulliert: zwischendurch bleibt man mit der Angst allein.

Und da eben ist es gut, sich mit den Nachbarn austauschen zu können. Aber ich drehe mich im Kreise mit diesen Überlegungen...

Ich könnte auch gut verstehen, wenn Du nicht Dein ganzes Leben hier an diesem Ort verbringen wolltest. Wie gesagt, es ist der Egoismus, der mich wünschen läßt, die rosa Rose solle in Sibirien blühen.

Liebe Leena, ich hoffe, ich habe Dich mit diesem Besuch nicht überfallen! Darf ich bei Gelegenheit wieder bei Dir hereinschauen?

Herzliche Grüße sendet Dir
Deine Linnea
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Einen Menschen zu lieben heißt:
Ihn zu sehen wie Gott ihn gemeint hat.
Liebe ist das Geheimnis der Brotvermehrung.
- Christine Busta -
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