AW: September
Liebe Ina,
Du kennst ja meine Ansicht dazu… aber vielleicht schreibe ich doch nochmal hier…
Ich kenne viele Ärzte – nicht nur die, die mich behandeln, sondern auch Verwandte, Freunde, ehemalige Studienkollegen… Es ist eine Gruppe sehr unterschiedlicher Menschen und entsprechend unterschiedlich fassen sie ihren Beruf auf. Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Der Tod ist ihr ärgster Feind. Sie sind in ihrer ganzen Studienzeit darauf trainiert worden, Leiden mit allen Mitteln zu bekämpfen und dem Tod entgegenzuarbeiten. Das Wort "austherapiert" ist das Schlimmste, was ihnen selbst beruflich passieren kann. Egal ob ein Arzt ein wirklich anteilnehmender Mensch ist, dem es ins Herz schneidet, eine solche Botschaft übermitteln zu müssen, oder ob er in einem Machbarkeits- und Karrierewahn verhaftet ist: "austherapiert" bezeichnet seine Grenze, die ihm selbst wehtut. Meine feste Überzeugung ist, daß kein Arzt dieses Wort gebrauchen würde, solange er noch irgendwo eine reelle Chance sieht.
Viel leichter werden Therapieangebote unterbreitet, an die die Ärzte selbst nicht glauben. Das soll keine bösartige Unterstellung sein. Meiner Ansicht nach tritt hier lediglich zutage, daß auch Ärzte ihre "allzumenschliche" Seite haben: Wenn sie mit ihrem Fachwissen rein gar nichts mehr für den Patienten tun können, erscheint aus ihrer Perspektive schon der an ein Wunder grenzende Hauch einer Chance als versuchswürdig. Sie möchten alles, wirklich alles getan haben, was in ihrer Macht steht...
Liebe Ina, sicherlich kann ich nur ganz vage ahnen, wie sich die Situation anfühlt, in der Du Dich befindest. Aber ich versuche mal, aus Deiner und nicht aus der Perspektive der Ärzte zu denken und mir vorzustellen, was ich an Deiner Stelle täte. Das kann natürlich nur unter Vorbehalt geschehen: ich weiß schlichtweg nicht, wie ich in einer solchen Situation reagieren würde, ich kann es mir nur ausmalen. Und es kann auch keine Empfehlung sein, weil Du die Entscheidung für Dich treffen mußt. Aber weil Du um das Gedankenspiel gebeten hast, schreibe ich meine Version hier auf:
Wenn meine körperliche Verfassung so wäre, wie Du sie geschildert hast, würde ich mein Leben im höchsten Maße gefährdet sehen, wenn eine Hochdosischemo und eine Stammzellentransplantation geplant würden. Du weißt es ja viel besser als ich: es geht nicht um eine Vitaminkur, die man eben mal mitnimmt und wenn sie dann doch nichts bringt unter "ausprobiert" abhakt. Und sie ist auch nichts, wovon man unter den gegebene Umständen sagen könnte: "natürlich ist es eine harte Zeit, aber die Chancen stehen gut, es lohnt sich bestimmt". Eine solche Maximaltherapie ist auch unter besten körperlichen Voraussetzungen lebensgefährdend, das könnte ich unter den vorgestellten Umständen nicht ignorieren. Natürlich könnte ein Wunder geschehen ... ich glaube an Wunder, aber nicht daran, daß sie sich unbedingt dort einstellen, wo man sie am sehnlichsten erwartet…
Wenn jemand der Ansicht wäre, ich hätte unter den geschilderten Umständen nichts zu verlieren, dann müßte ich sagen: DOCH! Lebenszeit und Lebensqualität. Statt Isolation und maximaler Immunsuppression könnte ich versuchen, mir mein Leben so gut wie möglich einzurichten, mich mit den Menschen umgeben, die mir guttun, Therapien und Unterstützungen jeglicher Art in Anspruch nehmen, die mein Wohlbefinden befördern, die mir möglichst viel Stabilität verleihen. Hier könnte die Medizin noch viel für mich tun, aber eben nicht mehr vertreten durch den Hämatologen, sondern eher durch den Lungenfacharzt, den Schmerzspezialisten etc. Hier könnte ich mir vorstellen, noch vergleichsweise viel gute Lebenszeit zu haben, und in dem begrenzten Rahmen, der gesetzt ist, noch einmal aufzublühen…
Liebe Ina, Du siehst, in meiner Vorstellung hätte ich die Entscheidung getroffen. Ich weiß nur zu gut, daß eine solches Gedankenspiel himmelweit entfernt ist von der dazu passenden Situation im wirklichen Leben. Niemals würde ich mir anmaßen, zu wissen, wie es "wirklich" ist. Dazu kommt, daß ich in meine Überlegungen nur die Aspekte einbeziehen kann, die ich kenne...
Es ist sehr schwer, über all das zu schreiben. Es wird vielleicht alles sehr hart klingen, so, als würde ich mich nur mit Zahlen und Statistiken abgeben und daraufhin sagen: "Finde dich damit ab! Es gibt keine Hoffnung mehr!" Tatsächlich aber möchte ich genau das NICHT sagen, im Gegenteil: ich möchte sagen: Auch wenn es vielleicht keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt (und nicht mehr und nicht weniger sagt das Wort „austherapiert“, das ich persönlich – wie erläutert – nicht ignorieren könnte, sondern aufgrund meiner persönlichen Ärzte-Erfahrungen ernstnehmen müßte), auch wenn mir also keine Hoffnung auf Heilung mehr möglich wäre, so wäre doch ganz viel anderes, worauf sich meine Hoffnung richten könnte und das zusammengenommen die Hoffnung auf möglichst viel gute Lebenszeit ergäbe.
Liebe Ina, Du weißt hoffentlich, daß ich Dir nur das Beste wünsche! Und ich bin mir sicher, daß Du die für Dich richtige Entscheidung treffen wirst! Ich möchte mit diesem Beitrag nur darauf hinweisen, daß Hoffnung nicht an Heilung gekoppelt ist (auch wenn wir gewöhnt sind, unsere Hoffnung an diesen Gedanken zu binden) und daß Hoffnung, die ich für die Essenz der Lebenskraft halte, viele, viele, viele, viele, viele, viele Gesichter hat.
Alles erdenklich Liebe und Gute für Dich!
Deine Linnea
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Einen Menschen zu lieben heißt:
Ihn zu sehen wie Gott ihn gemeint hat.
Liebe ist das Geheimnis der Brotvermehrung.
- Christine Busta -
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