AW: Betroffen?! Angehörig?! Herzlich Willkommen!
Liebe Annika
Mensch, hier hat sich ja ne Menge getan seit gestern. Eigentlich wollte ich mich gestern schon geäussert haben, aber kam zeitlich nicht dazu.
Generell gilt: ich kann Dich absolut und 150 %ig verstehen. Ich ticke ähnlich. Wie ich neulich auch schon in meinem Eckchen geschrieben habe, meiner Mutter geht es zur Zeit wahnsinnig gut. Ich warte bereits wieder auf den nächsten Hammer. Und ich hasse mich dafür. Ich hatte eine Zeit während der Diagnose, da konnte ich einen guten Tag geniessen, ohne an das Morgen zu denken. Das ist leider schon wieder vorbei.
Auch ich verdamme mich, dass ich soviel gelesen habe, soviele Chemo-Konzepte im Kopf habe, abrufbereit, die Prognosen auswendig weiss, den Adeno auf einem Zellenbild von einem Kleinzeller unterscheiden kann, etc. pp.
Gestern habe ich mit der Mutter einer ganz lieben Freundin telefoniert, die fragte nach meiner Mama, ich habe berichtet. Am Ende vom Lied sagte sie dann "aber das ist doch ein gutes Zeichen, vielleicht verkapselt sich das Ding ja, das gibt es oft". Ich habe dazu nichts mehr gesagt. Oder, gleiches Spielfeld, Menschen, die sehen, wie gut es meiner Mum geht, sagen "na Gott sei Dank, dann ist die Chemo fertig und dann kann sie endlich wieder ihr Leben geniessen. Lange hat es gedauert, aber immerhin geht sie positiv ins neue Jahr".
Ich nicke dann immer brav, weil: was bringt es, denen mein medizinisches Viertelwissen mitzuteilen. Was bringt es zu sagen,ein Tumor verkapselt sich in den seltensten Fällen und nur, weil es ihr gut geht, ist das Ding immer noch da.
Ich habe keinerlei Unbedarftheit mehr. Und darüber bin ich sehr, sehr unglücklich. Manchmal frage ich mich: kann ich mit dem, was ich weiss, überhaupt eine wirklich stabile und gesunde Hoffnung haben? Nein, geht nicht. Aber dann wieder: JEDE Krankheit ist anders, jeder Mensch hat einen anderen Verlauf, dieser Kompass ist der beste Beweis. Und: ist es nicht toll, dass es unseren Müttern weitestgehend gut geht? Wie viele MEnschen sind ernstlich krank und wissen es noch nicht mal.
Ich denke auch in den Gesprächen mit Mama viel zu sehr an den Tumor, übersehe oft, dass sie sich eigentlich auch richtig gesund fühlt, von einem klitzekleinenbisschen Kurzatmigkeit mal abgesehen.
Ich habe während meines Studium lange genug in den elendigen Statistikvorlesungen gesessen und weiss sehr genau, wie die sich errechnen. Das hat mit Realität nichts mehr zu tun. Und trotzdem….
Ich bin in Hab-Acht-Stellung und ich wünsche mir so sehr ein Leben vor dem 24.März zurück. Das gibt es nicht mehr. Was tue ich also dann? Mich auf das Schlimmste vorbereiten? Ich habe furchtbare, elendige Gedanken im Kopf, mal mehr, mal weniger. Die kann ich hier nicht schreiben. Was sollen die bringen? Mich an den Super-Gau gewöhnen? Damit es mir nicht so wehtut? Sehr egoistisch und trotzdem: in einigen Momenten ist es so.
Für diese beschissene Krankheit braucht es einen verdammt langen Atem. Manches Mal droht der mir auszugehen. Und meine Mami? Die meistert das alles mit Bravour. Perfekt. Sicher, gerade ist genug Atem da, es geht ihr gut. Morgen gibt’s ein neues Röntgenbild und ich habe mich eben schon dabei ertappt zu überlegen, wie wir noch diesen Tag geniessen können, für den Fall, dass es morgen bad news gibt. Ich werde jetzt schon wieder unruhig. Kann das sein?
Sich selbst alle Lebensqualität nehmen…. darin bin ich Königin. Die Ursache dessen ist Angst. Weil ich wirklich keine Ahnung habe, was ich tun würde, wenn meine Eltern nicht mehr sind. Das geht gar nicht.
Trotzdem haben glaube ich die Leute recht, die sagen: man kann sich an den Gedanken nicht gewöhnen, es wird nicht besser, wenn man sich vorher immer mit dem schlechten Verlauf beschäftigt. Daher sollten wir wirklich die guten Tage nehmen und sie zu geniessen.
Wieviel hat uns die Krankheit gelehrt.. nicht nur negatives. Mir und meiner Familie hat sie so sehr die Augen geöffnet, wie fragil das Leben ist. Dass man das geniessen soll. Und wie schön es ist, dass wir uns haben. Dass auch ein geschiedenes Ehepaar wie es meine Eltern sind an einen Tisch finden, dass mein Papa Suppe kocht und Essen auf Rädern spielt, als es Mama mal nicht so gut ging. Ich sitze dann hier in Stuttgart und kriege nasse Augen, weil das für mich Liebe in Reinkultur ist. Die kann ich dann Gott sei Dank geniessen.
Und ich weiss, dass das Momente sind, die ich vor der Diagnose anders bewertet habe.
Irgendwer schrieb mal in einer Signatur: Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, so würde ich heute noch einen Baum pflanzen. Da möchte ich gerne hinkommen. Weg von diesem destruktiven und Endzeitdenken.
Vielleicht sind wir da ähnlich.
Nun ist es ein Roman geworden, dabei wollte ich nur sagen: Ich verstehe Dich sehr gut!
Liebe Grüsse und lass uns den Sonnentag geniessen.
Thessa
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Meine Mutter, ED 03/08 Adenokarzinom nicht operabel; T4N3M0.
Chemokonzept: seit 03/08 Carboplatin/ Vinorelbine, Umstellung aufgrund von Versagen von Carboplatin auf Taxotere am 22.07.08. Letzte Chemo am 27.11.08 - nun watch and wait. 
14.01.: Lunge fast tumorfrei, multiple Hirnmetastasen, 10 Ganzhirnbestrahlungen ab dem 22.01.
 am 09.02.2009 in unseren Armen eingeschlafen 
1946 - 2009
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