Thema: Stammtisch
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Alt 14.12.2008, 10:13
gaertner gaertner ist offline
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Standard AW: Stammtisch

Hallöchen an alle,

sind schon seltsame Gedanken, die so am frühen Morgen durch den Kopf schiessen. Eigentlich wollte ich nur kurz Annette antworten, plötzlich lässt mich ein Lied nicht mehr los. Zu meiner Schulzeit gab es früh eine Meldung an den Lehrer und dann ein Lied. Der Klassendienst durfte ansagen , was gesungen wird und es hatte natürlich jeder so seine Vorlieben. Bei einem Mädel gab es immer so ein "Klassenkampflied", ich weiss garnicht mehr, wie es weiterging, aber es fing mit den Zeilen an , "eines Morgens in aller Frühe, bellaciao, bellaciao ...." Ich krieg die Melodie im Moment einfach nicht aus meinem Kopf ! Und dies zum 3.Advent
Ist auf jeden Fall eine Erinnerung, die zum Schmunzeln anregt. Gestern habe ich recht intensiv an die Vergangenheit denken müssen und meine Liebe fragte mich, ob dieses Zurückdenken eher mit den Strapazen in Münster (OP) oder eher mit der schönen Zeit verbunden ist, die wir alle als Familie damals verbracht haben. Ich kam mir irgendwie wie in Starwars vor, "Vater, es ist noch Gutes in Dir " Im Moment denke ich viel an die "schlechteren" Momente und stelle dann fest, der Schmerz reicht nicht mehr zum Weinen.
Ist dies gut oder schlecht ? Tief in mir drin denke ich, wie "abgebrüht" bist du geworden, es gab eine Zeit, da hast du beim Anblick eines Rollstuhlfahrers in Tränen ausbrechen können, und heute ? Dann denke ich im gleichen Augenblick, es ist richtig so, halt dich nicht an den schlechten Sachen auf, denk an die guten Dinge, die waren. Dann kommt sofort die Angst, ich könnte die schlechten Dinge einfach irgendwann vergessen. Vor langer ,langer Zeit hat mein Vater mal zu mir gesagt, irgendwann vergißt du die schlimmen Dinge und wirst dich nur noch an die guten Augenblicke erinnern, damals in Bezug auf den beendeten Wehrdienst. Da muß ich gestehen, er hatte Recht. Vieles , was mich da gestört und verletzt hat, spielt heute überhaupt keine Rolle mehr.
Jetzt habe ich direkt Angst, dass ich bestimmte Dinge , die doch dazugehört haben, auch einfach vergesse. Ein Jahr nach den Ereignissen konnte ich aus dem Gedächtnis erzählen , an welchen Tag was, wo , wie gemacht wurde, bei fast allen Untersuchungen war ich dabei,..... heute weiß ich nicht mal den Tag der großen OP in Münster, wo ihm der Oberschenkelknochen ersetzt wurde. Erde sei dank, habe ich den Abschlußbericht seiner letzten Ärztin erhalten , manchmal hole ich ihn vor und lese dort nach. Es selber niederzuschreiben hielt ich damals nicht für so wichtig. Doch heute ist der Kontakt gerissen zu denen , die damals eine Familie gebildet haben und der Weg , sich gemeinsam zu Erinnern ist versperrt. Desto höher meine Achtung vor den hilfreichen , mitfühlenden Menschen im Umfeld, wo nach wie vor ein
guter, wenn auch durch die Entfernung seltener Kontakt besteht.
Das "Personal", nie haben wir uns als "Ware" Patient gefühlt, es war sehr familiär . Das Elternhaus, für mich eigentlich nicht "zuständig", weil wir nie dort übernachten mußten, doch gerade dort habe ich selber die meiste Hilfe und Trost gefunden.
Nicht zuletzt seine letzte behandelnde Ärztin. Nach einem Jahr hatte ich den Wunsch mit íhr zu reden und Sie hat sich sehr viel Zeit genommen für dieses Gespräch.
Jetzt schließt sich der Kreis zu Dir, Annette. Ja, was haben unsere Lieben auf sich genommen, was haben wir später auch gezweifelt, war das alles notwendig ? Wie Helmut schon sagte, wenn man daran zweifelt, auch noch "Fehler" in der Abfolge der Behandlung gemacht zu haben , wird man sein gesamtes zukünftiges Leben nicht nur mit Trauer, sondern auch mit Schuldkomplexen beladen sein. Die Ärztin hat auf mich gewartet, ich hätte auch schon eher kommen können, viele Dinge aus meiner Sicht hat Sie mir bestätigt. (Meiner Sicht-----Kontra Sicht der Mutter) Wäre ich eher zu Ihr , hätte ich mir vielleicht auch eine Zeit, geplagt von schlimmen Selbstzweifeln, erspart. Klare Aussage war, wenn ein älterer Mensch stirbt ist dies anders , als bei so einem Jungen. Er hatte sein eigentliches Leben vor sich, also MÜSSEN alle Möglichkeiten, und sei die Chance noch so gering, angewendet werden, um dieses Leben zu erhalten. Wie es letztlich ausgeht, dafür gab es bei meinem Sohn auch nicht genug Erfahrung und Vergleichdaten , weswegen wir auch von Anfang an zugestimmt haben, dass er an einer "Studie" mit teilnimmt, wo seine Daten im Rahmen eines größeren Projektes gesammelt werden. Dies alles und auch die weiteren Behandlungsschritte übrigens immer in Absprache und Zustimmung seinerseits. Er hat an seine Gesundung geglaubt und so lange gekämpft, bis er sich selber eingestehen musste , der Krebs hat gesiegt und ich glaube heute, DIES war das, wovor er sich am meisten gefürchtet hat. Aber er selbst wollte es nicht wahrhaben, hat auf die Ergebnisse der letzten Untersuchungen gewartet und wollte sie doch selber gar nicht wissen. Als ich ihm sagen musste, sein Kampf ist hoffnungslos, da wusste er es schon längst selber.
Wir wollten alle nicht, das jetzt noch lebensverlängernde Maßnahmen eingeleitet werden. Der Arzt sagte, wann er gehen muß ist unbestimmt. Wir hätten aber noch Zeit, zu Hause alles vorzubereiten , weil wir ihn in Würde ermöglichen wollten , sich von allen seinen Freunden zu verabschieden. Eine Caipi-Party wollte er machen mit allen. Dann wirklich der Schock, ob der Schnelligkeit, mit der er ging. Bewußt schreibe ich dies so, den ich glaube heute, er wollte es so. Dann ergibt auch alles einen Sinn , was passiert ist. Bestimmt lege ich mir damit auch ein Stück Welt zurecht, aber es hilft mir ungemein , die Dinge in diesem Licht zu sehen. Ich hoffe , das der Tag kommt, wo ich es richtig verstehen werde, wo er mir seine Sicht noch mal erklären kann. Ich hoffe dieser Tag kommt nicht so schnell und ich weiß auch nicht wo ich ihn dann treffen werde, fehlt mir als Atheist der Glaube an ein Treffen auf Wolke 7.
Doch so, wie er heute wieder präsent ist, kann nicht alles einfach weg sein. Er lebt natürlich in meinem Herzen, doch wenn dann weiter nichts wäre, wäre er ja dann weg, wenn dies nicht mehr schlägt ?!

Ich wünsche allen einen schönen 3. Advent .

LG Gaertner
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