AW: Dickdarmkrebs mit Metastasen
Liebe Parisima,
du macht nichts falsch!
Mache dich mit deinem Leid bitte niemals kleiner als die anderen. Jedes empfundene Leid schmerzt, da kann man nicht vergleichen, denn es ist der eigene Schmerz, die eigene Verzweiflung und Hilflosigkeit.
Dein Vater hat sich nur soweit verändert, dass er weiß, nun ist sein Leben am Ende angelangt, und soweit ist er noch nicht, er will nicht weiteres ertragen. Alle seine Aktionen und Reaktionen schmerzen euch, sind aber nicht auf euch gezielt. Es ist die Wut auf die Erkrankung, es sind all die Gefühle die ihn belasten, die er eigentlich gegen die Krankheit richtet. Ich weiß diese Gefühlsausbrüche, die Lieblosigkeit, diese Gleichgültigkeit gilt NIEMALS euch. So schwer es auch zu verstehen ist, und euch weh tut. Denn ihr wollt für ihn dasein, ihm alles geben, und er lehnt es ab, schiebt euch weg. Seid untereinander für euch da in eurer Traurigkeit und Hilflosigkeit, nehmt euch in Arm.
Jeder von euch hat jetzt Angst ihn mit Worten, oder einem Gegenargument in seiner Krankheit zu verletzen. Das solltet ihr nicht. Wer immer den engsten Bezug zu deinem Vater hat, könnte sich zu ihm setzen, sagen, höre mich an. Ihm sagen, wie sehr er euch mit seiner Achterbahn und euer nicht wiedererkennen verletzt. Dass ihr irgendwo versteht, was die Krankheit mit ihm macht. Dass es aber auch euch verletzt, wie er sich jetzt gibt. Das in einem ruhigen aber bestimmten Ton. Die meisten Menschen denken, dass man so etwas in dieser Situation nicht macht. Doch, auch als Angehörige darf man seine Gefühle mitteilen, denn auch ihr leidet, wenn auch auf eine andere Art. Meine Mutter wurde richtig bösartig, gemein und sagte Dinge, die mich sehr tief trafen. Bis es mir zu viel wurde, und ich ihr eines Tages ruhig und bestimmt ohne Vorwürfe sagte, dass es so nicht weiter gehen könnte. Sie war 2 Tage lang eingeschnappt, was mir natürlich gleich ein schlechtes Gewissen brachte, aber ich war dennoch froh, darüber gesprochen zu haben. Denn von dann ab war alles geklärt, sie wußte dass ich ihre Wut verstehe, aber dass ich nicht der Prellbock dafür sein kann. Dass sie auch jederzeit wütend sein und es zum Ausdruck bringen kann, aber nicht mit bösen Worten gegen mich. Ich kann dir aus meiner langjährigen Erfahrung dazu wirklich nur sagen, die Betroffenheit verändert einen Menschen, da seid ihr nicht alleine. Fast immer verändert sich das Verhalten, die Achterbahn fährt alle Gefühle auf, die ein Mensch besitzen kann. Mit Antidepressiva kann man in diesen Momenten nicht viel ausrichten, außer man setzt den Betroffenen total unter die härtesten Mittel.
Gebt ihm etwas Zeit, die Situation kann sich schlagartig wieder ändern. Immer wenn ich neu erkrankte, und mich der Zorn deswegen packt, kann ich die liebevolle Zuwendung meiner Familie für einige Tage nicht ertragen. ICH muß in diesen Momenten damit erst klarkommen, für mich neu sortieren. Die Krankheit hat mir kurzfristig die Kontrolle über meinen Körper genommen, das ist für viele Menschen schwer zu ertragen. Am liebsten würde ich allen Menschen, die mir nahe stehen, einfach nur den Rücken zudrehen. Aber ich weiß, wie sehr sie das schmerzt, denn ich habe es durch meine Mutter selbst erlebt. Man muß in beiden Schuhen gegangen sein, um die Gefühle einordnen zu können, sie zu verstehen ist extrem schwer. Da ist einfach nur Geduld gefragt, bis sich alles wieder verändert.
Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig helfen, deine Gedanken neu zu ordnen, manches besser zu verstehen. Ich wünsche euch noch ein wenig Geduld, die Kraft dazu ohne die Angst, dass euer Dasein deinen Vater noch erreicht. Er weiß dass ihr ihm gutes wollt, er kann es momentan einfach noch nicht zulassen.
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Jutta
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