Thema: Myriam
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Alt 29.08.2009, 11:25
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HelmutL HelmutL ist offline
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Unglücklich AW: Myriam

Guten Morgen,

tja, langsam muss ich mir wieder den Wecker stellen um (relativ) früh aufzustehen. Schweigermutter verpasst sonst ihre Brötchen und das ist so ziemlich der einzige Kontakt, den sie zur Zeit noch nach draussen hat. Ansonsten sitzt sie nur noch im Sessel und strickt seit Wochen einen Schal, immer wieder von neuem. Ihre einzigen Highlights sind die Putzfrau am Mittwoch und die Pflegekraft, die Freitags zum Duschen kommt. Ansonsten müssen wir sie zu Bewegung und kleineren Tätigkeiten animieren. Ab nächste Woche wird sich das ändern. Ich habe eine Betreuungsgruppe für sie gefunden, die sich Montags trifft. Da ich jedoch erstmal nur Vorabinformationen hab, werd ich es am Montagmorgen festzurren und dann am Nachmittag mit ihr zusammen einen ersten Besuch dort machen. Ich denke, es wird ihr dort gefallen, sie ist ansich nicht kontaktscheu.

Sie muss unbedingt raus, unter Menschen, in qualifizierte Betreuung. Immer öfter hören wir sie laut reden. Mit ihren Verstorbenen, ihrem Mann, ihrem Sohn, ihrer Tochter, ihrer Mutter, wir wissen es nicht. Immer öfter auch mit ihrem Spiegelbild, sei es im Badezimmerspiegel oder in der Balkontür. Ein paarmal auch schon mit der "Frau" in meinem Auto vor der Tür: sie erkennt sich selbst nicht mehr. Einmal war sie ganz aufgeregt: "Da war eine Frau auf dem Balkon. Ich kenne die nicht." hat sie erzählt. "Die wollte unbedingt, dass ich ihr öffne. Als ich an die Tür ging, kam die sogar ganz dicht auf mich zu und wollte, dass ich ihr aufmache. Ich hab ihr nicht aufgemacht. Ich kenn die doch garnicht. Die steht oft da draussen, ich weiss nicht, wo die her kommt" Seither achten wir darauf, dass die Gardinen möglichst immer zugezogen sind vor dieser Glastür.

Seit vielen Jahren geht sie morgens an's Brotauto, das gleich vor der Tür hält, und holt sich ihr Brot, seit letztem Jahr ihre 2 Brötchen und mal ein Stück Kuchen. Die Klingel des Bäckerauto's könnte Tote aufwecken. Sie registriert es nicht mehr. Seit vielen Jahren kommt es immer um die gleiche Zeit. Sie hat keinen Zeitbegriff mehr. Da die Nachbarn Bescheid wissen, haben die dann mal kurz geklingelt bei ihr, wenn sie nicht draussen war. Nur, das nutzt nichts mehr. Sie käme ja nicht raus, weil sie keinen Haustürschlüssel mehr hat.

Früher war unsere Haustür nur abgeschlossen, wenn niemand zu Hause war. Seit einiger Zeit müssen wir abschliessen: sie möchte des öfteren nach Hause, wenn der Fernsehgarten oder Silbereisen und Co. beendet sind. "Helmut," ruft sie dann manchmal, "jetzt können wir nach Hause. Gut, dass wir dahingefahren sind, es war sehr schön." Sie empfindet das Geschehen im Fernseher als Realität in ihrem Wohnzimmer. Deshalb müssen wir auch sehr genau darauf achten, was sie sich anschaut. Ein Krimi, was sie früher sehr gerne geschaut hat, wäre absolut das Falsche. Er würde sie in Angst und Panik versetzen. Selbst an und für sich harmlose Sendungen, wie z. B. die Nachrichten, könnten zu einem fatalen Problem werden. Fussball geht Gott sei Dank immer. Noch schafft sie es in der Regel sich mit ein bisschen Hilfe von alleine wieder zu orientieren. Einige Male allerdings hat sie dann halt noch einer weiteren Übernachtung hier im Haus zugestimmt. "Na gut, schlaf ich halt heute noch einmal hier. Morgen fahren wir dann aber nach Hause, ja?" "Sicher fahren wir morgen. Ich bin nur zu müde zum Autofahren. Ich schlafe heut auch hier." Jede andere Antwort wäre falsch. Meist schaff ich es, mich dann umzudrehen und zu grinsen. Was soll ich auch anderes tun? Irgendwie muss ich die Beherrschung behalten. Ich lache sie damit ja nicht aus.

Gott sei Dank war und ist sie eine sehr friedliebende Frau. Hoffentlich noch recht lange. Ich mag sie und und sie tut mir schrecklich leid. Ich tu es gerne für sie. Sie war ihrem kranken Mann 32 Jahre lang eine treusorgende Frau, meinen Kindern eine liebe Oma und mir selbst eine gute Schwiegermutter. Trotzdem weiss ich nicht, wie lange ich das noch schaffe. Manchmal möchte ich einfach weglaufen. Ich ertrage es nicht mehr, hilflos daneben zu stehen, wenn ein Mensch langsam zu Grunde geht. Dann kommen Bilder hoch, die ich vergessen möchte, und ich könnte geradeaus gegen die Wand laufen.


Alles Liebe

Helmut
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