AW: Chemo bei ProstataCa wird nicht besser
Liebe Babe.
Warum verkneifst du dir was??
Schreib einfach, auch wenn du denkst, dass deine Gedanken durcheinandergeraten, wirr sind...
Was ich schrieb – das ich meinem Papa oft die Erlösung gewünscht habe -, das hätte ich früher nie gesagt und ich hätte jeden verachtet, der so gedacht hätte.
Niemals würde ich meinem Paps sowas wünschen, dachte ich mir! Was sind das bloß für Menschen, die ihren Lieben den Tod wünschen!!!!
Erlebt man es und spürt den Schmerz, sieht die Traurigkeit in den Augen, die Verzweiflung, sieht die Resignation, die Hin- und Hergerissenheit zwischen Kämpfen und Hinnehmen und erfährt, was es heißt, einen geliebten Menschen gehen zu lassen – dann erst kann man verstehen, warum andere früher schon so dachten.
Die schlimme Krankenzeit meines Papas hat mich auch stark gemacht.
Leider wurde mir erst durch diese Zeit bewusst, wie schwer ein Menschenleben sein kann.
Wenn man einmal den Verlust eines geliebten Menschen erlitten hat - eines Vorbilds, dem Held eines kleinen und großen Mädchens, seinem Anwalt, besten Freund, Bankier, Handwerker und vieles mehr -, dann sieht man viele Dinge im Leben anders.
Liebe Babe, das Verhalten deines Papas kenne ich. Ich habe bei meinem Papa verschiedene Phasen erlebt.
Mein Papa hatte eine zornige Phase, in der er öfter Stress mit Mama hatte. Wenn er eine Frau gewesen wäre, würde ich sagen: er war zickig.
Mama versuchte ihm zu helfen, wo sie konnte – er fühlte sich bevormundet, überstimmt, nicht gefragt, nicht gehört. Das machte ihn zornig. Er konnte vor Kraftlosigkeit die Dinge, die er früher immer gemacht hat (Kleinigkeiten) nicht mehr so einfach erledigen. Er sah, dass ich oder mein Freund oder meine Brüder die Dinge taten, die er sonst immer gemacht hat.
Das machte ihn wieder zornig. Nicht auf uns. Auf die Tatsache, dass er sich nutzlos fühlte. Zu nichts mehr zu gebrauchen.
Und Mutti mit ihrem Helfersyndrom bekam das dann ab – sie nervte ihn auch oft, muss ich ehrlich dazu sagen. Aber das könnte für liebende Ehefrauen normal sein.
Papa hatte in dieser Phase auch seine Denkerzeit. Er starrte in den Garten auf die grüne Wiese und wenn ich da war und es mal wieder „krachte“, dann sah er mich an, rollte mit den Augen und sagte „Grün beruhigt!“. Er fand das nicht witzig, er meinte das sehr ernst.
Als Mama mir ihre Verzweiflung klagte, beschäftigte ich mich damit, warum ein Mensch in seinem Zustand so mit seinen Mitmenschen umgeht.
Babe, ich gebe dir die Phasen von Kübler-Ross an die Hand. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, denn es handelt sich dabei um Möglichkeiten, die aber nicht auf alle Kranken zutreffen. Es soll eine kleine Hilfestellung sein, die auch dir vielleicht erklären kann, warum dein Paps so reagiert.
Mir hat es geholfen, meiner Mama zu erklären, warum Papa so ist.
Für sie war es natürlich auch schwer, denn ich bat sie, ihm nicht bei allem helfen zu wollen und ihm nicht das Gefühl zu geben, dass er sich wie ein Kleinkind fühlen muss.
Er sollte selbst merken, dass er für einige Dinge zu schwach geworden ist, dass ihm die Kraft fehlt. Er sollte auch merken, dass er Hilfe braucht. Er war aber nie der Mensch, der um Hilfe bat.
Ich weiß nicht, ob Mama sich zurückgeschraubt hat. Die zornige Phase von Papa ging dann aber auch vorbei und er hatte wieder das liebenswerte Wesen, was ihn ausmachte.
Es folgte dann die Zeit, in der er ganz ruhig war, nicht viel sprach, seine Ruhe brauchte, viel schlief und vor sich hin dachte. Er war nicht sonderlich interessiert an Gesprächen. Sie strengten ihn an. Reden strengte ihn an.
Ich sehe ihn auf seinem Sofa sitzen. Da saß er immer. Ich sehe, wie er mich anschaute, manchmal durch mich durch schaut. Ich sehe, dass er sich ein kleines Lächeln abzwingt. Ich sehe, wie er an die Wand im Esszimmer schaut – da hängt nichts, keine Uhr, deren Zeiger er verfolgen könnte, kein Bild, das er analysieren würde... nichts. Nur Tapete. Ich höre mich reden, erzählen von meinem Tag, ich sehe Mama an, die mir zuhört, die mit mir spricht. Ich bin der Entertainer. Aber das macht nichts...
Ich sehe mich aber auch neben ihm auf dem Sofa liegen, meinen Kopf auf seiner Schulter, seine große weiche Hand in meinen Händen. Ich spüre, wie seine Hand meine Wange streichelt und wir einfach nur nebeneinander sitzen und nichts sagen. Ich spüre sogar, wie ich einen Krampf im Halswirbel bekomme, weil ich so dermaßen schief da liege, hauptsache, ich belaste mit meinem Kopf nicht so sehr seine Schulter.
Wir schauen zusammen aus dem Fenster. Ganz wenig spricht er. Aber das macht nichts...
Diese Zeit gibt es einfach. Ich bin der Meinung, sie gehört zum Verlauf.
Wie lange sie geht? Keine Ahnung.
Ob sie aufhört und ob alles wieder wie vorher wird? Ich weiß es nicht.
Mein Papa hat seine ruhige Phase bis zum Schluss gehabt.
Er hat uns auch wieder mehr wahr genommen. Wir haben ihn nicht überfordert, haben eher erzählt als gefragt. Viel gesprochen hat er nicht mehr. Seine Stimme war kratzig, wie bei Halsschmerzen.
Vielleicht hat er die auch gehabt, weil er unterdrückt hat, dass er am liebsten laut schreien wollte?! Für mich absolut vorstellbar, aber es hätte nicht zu Papa gepasst.
Liebe Babe, ich wünsche dir von Herzen, dass du die Situationen gut ertragen und mittragen kannst, die mit deinem Papa geschehen. Es ist so schwer, wie du schon schriebst. Es tut so weh. Aber du wirst das schaffen, weil du deinen Papa so liebst und ihm alles geben willst, was du kannst.
Wir sind die starken Töchter und Frauen, die da durch kommen.
Wir haben einen großen Riss im Herzen, aber wir haben viele Erfahrungen und Erlebnisse gesammelt, die jeden Tag der Vergangenheit als „richtig gemacht!“ einsortieren.
Ich wünsche dir und deiner Familie ebenso ein schönes Osterfest, in der Hoffnung, dass die Sonne scheint – wenigstens ein paar Stunden – und das wir alle frische Luft schnappen können. Ich wünsche deinem Papa, dass er euch wieder mehr wahrnehmen kann und die Ablenkungen von euch zulässt. Es soll ihm wieder besser gehen, das wünsche ich ihm.
__________________
Alles Liebe.
**********************
Papa, für immer in meinem Herzen - 31.12.2007
Geändert von Annika0211 (01.04.2010 um 06:51 Uhr)
|