Einzelnen Beitrag anzeigen
  #113  
Alt 21.07.2010, 21:02
yagosaga yagosaga ist offline
Gesperrt
 
Registriert seit: 29.04.2010
Ort: Braunschweig
Beiträge: 215
Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Hallo zusammen,

hier kommt nun mein versprochener Bericht: Am Montag Mittag sind wir von einer eindrucksvollen und abenteuerlichen Reise wohlbehalten wieder in Braunschweig angekommen. Ich hatte wenig Zeit, mich vom Jetlag zu erholen, denn gestern morgen ging es gleich weiter mit den Infusionen für den fünften Chemozyklus. Bis zum nächsten Montag, jeweils vormittags mit Ausnahme des Wochenendes dauern die an, und so gesellen sich zu dem Jetlag auch noch die Nebenwirkungen der Chemotherapie, aber darinnen bin ich ja nun allmählich erfahren. So schlage ich jedenfalls zwei Fliegen mit einer Klappe und bin froh, dass ich nicht noch eine "Erholungszeit" zwischen Ankunft und Chemo gelegt habe.

Was wir in Kanada und USA erlebten, ging an Grenzen. Mit dem Auto sind wir über 4000 km. gefahren, ich als "Kleinzeller" habe das Auto mit der ganzen Familie über Highways durch den dichten Großstadtverkehr von New York und Boston gesteuert, wovor sogar meinem Taxifahrer, der mich immer zur Chemo fährt, gegraut hätte.

Unsere Anlaufstelle war meine Cousine in einem kleinen Ort auf dem Lande zwischen Montreal und Quebek, die wir schon mal vor 22 Jahren dort besuchten. Von ihr aus brachen wir zu kürzeren und längeren Trips in die Umgebung auf.

Die längste Reise mit dem Auto war nach New York am 4.7., die Fahrt dauerte ca 10 Stunden. Davon verbrachten wir ca. anderthalb Stunden beim amerikanischen Zoll. Der Grenzübergang könnte von ehemaligen DDR-Grenzsoldaten entworfen und gebaut worden sein. Es gab die bekannten Unterstände aus Marienborn. Uns wurde der Autoschlüssel abgenommen, und danach wurde das Auto gefilzt. Sogar unter den Fußbodenmatten wurde nachgeschaut. Wir durften bei der Durchsuchung nicht dabei sein und wurden ins Hauptgebäude geschickt. Dort wurden wir verhört und erkennungsdienstlich behandelt. Alle von uns mussten ihre Fingerabdrücke abgeben, und dann wurde von jedem noch die Augeniris photographiert.

Wir wurden nach dem Ziel und dem Zweck unserer Reise gefragt, mussten unsere Zieladresse angeben, und in einem schriftlichen Fragebogen mussten wir alle, auch unsere vierjährige Tochter, die folgende Frage beantworten, ob wir zwischen 33 und 45 an Naziverbrechen beteiligt waren oder gegenwärtig in terroristischen Absichten kommen und an Völkermorden beteiligt sind oder waren.

Ich empfand das alles ziemlich grotesk. Vielleicht sollte uns anscheinend indirekt zu verstehen gegeben werden, dass wir aus der Bundesschurkenrepublik kamen, die sich nicht mit am Irakkrieg beteiligte?

Am Abend des Independence Day erlebten wir von der anderen Seite des Hudson River das Feuerwerk über Manhatten mit, - solch ein gewaltiges Feuerwerk habe ich noch nie erlebt. Ich habe Photos gemacht, von denen ich bald einige ins Netz stelle, dann melde ich mich noch.

In New York erlebten wir am folgenden Tag den heißesten Tag seit dem Jahre 2001 mit ca. 40°C im Schatten. Wir fuhren das Empire State Building hoch, um New York von oben zu betrachten. Vor 22 Jahren gingen wir einfach zur Kasse, entrichteten unseren Obulus, und die Frau zeigte uns dann den Farhstuhl, den wir nahmen. Diesmal mussten wir ca. zwei Stunden in Warteschlangen warten, wurden wie auf dem Flughafen durch einen Sicherheitscheck geschickt.

Zu Museumsbesuchen blieb leider keine Zeit mehr, denn zwei Tage waren knapp bemessen. Wir sahen das Museum of Modern Art, das Metropüolitan Museum und das Guggenheim Museum nur von außen. Die Kinder sollten wenigstens die UN, den Central Park, das Rockefeller-Center, den Time Square und die älteren Stadtteile Greenwich und Soho sehen, sie selbst wollten noch Ground Zero besichtigen, denn den 11.9.01 hatten sie ja im Fernsehen miterlebt.

Nach der New York-Tour fuhren wir zurück, aber nicht ohne einen zweitägigen Abstecher nach Cape Cod zu machen, um uns in der kräftigen Atlantikbrandung dort am Strand zu erfrischen. (Den Film "Message in a Bottle", der dort gedreht wurde, habe ich mir heute noch bestellt.

Von meiner Cousine aus unternahmen wir noch Touren am St. Lorenzstrom entlang, besichtigten Quebec und den Montmorency-Wasserfall (der 30 m. höher als die Niagarafälle ist) und erlebten am Fjord des Saguenay noch zwei schöne Tage inklusive einer Wahltour, bei der wir Belugas und zwei Finnwale vom Schiff aus erlebten. Weitere Höhepunkte waren Odanak, ein Reservat der Abenaki- und Algonkin-Indianer, ein Tag am Wapizagonke-See im Mauricie-Nationalpark, wo wir auf den Seen Kanu fahren wollten. Aber ein kräftiger, langandauernder Regen ließ uns bald wieder nach Hause aufbrechen.

Nie werde ich mich mit der amerikanischen Ernährung anfreunden. Das Weißbrot ist pappig, die Beläge bei Pizza viel zu dick, der Teigboden von unten angebrannt. Es fehlte immer wieder am delikatem Geschmack, Brot war nie knusprig, und viele Lebensmittel waren viel zu aufwändig verpackt. Im frankphonen Kanada boten verschiedene Baguette- und Croisson-Arten wenigstens eine geschmackvolle und knusprige Abwechslung. Das kanadische Fin-du-Monde-Bier (dt.: Das Bier vom Ende der Welt) war eine Überraschung, es wurde in einer 0,7 l.-Flasche mit Kronkorken verkauft und hatte 9 Prozent Alkohol. Man kann es nur in kleinen Mengen zu sich nehmen, so sehr wirkt es. Ich habe danach bald tief und fest geschlafen.

Die Preise waren sowohl in den USA und Kanada extrem hoch und lagen bei dem zweieinhalbfachen dessen, was wir bei uns bezahlen. New York empfanden wir als sehr schmutzig, es stank überall. Mal nach Urin, dann nach angebrannten Würsten und Verwesung. An den Straßenrändern stand Müll, der noch nicht abgeholt worden war und bei der Hitze zu stinken begonnen hatte. Allerdings sahen wir diesmal weniger Bettler als noch vor 22 Jahren in den Straßen.

Für unsere kleine vierjahrige Tochter war das alles natürlich sehr anstrengend, und sie atmete jedes Mal auf, wenn wir wieder bei Martina im Haus waren. Mit ihrem Hund schloss sie sofort Freundschaft. Und in ihrem großen Haus fühlten wir uns sehr wohl. Mit unseren großen Kindern (16 und 15 Jahre) habe ich auf kanadischen Landstraßen Autofahren geübt. Diese Straßen wurden so wenig befahren, dass ich keine Sorgen hatte, dass da was passiert. Mit der Zeit wurden sie immer sicherer im Fahren. Jaja, sicher nicht ganz legal, aber ich erfuhr dort von anderen, dass schon die 14jährigen mit dem Auto zum Einkaufen in den nächsten Ort geschickt wurden.

Die ersten zwei Wochen der Reise "vergaß" ich, dass ich Krebs habe, und ich bin sehr froh, dass mein Arzt diese Reise mit ermöglicht hatte. Erst in den letzten beiden Tagen vor der Abreise holte mich langsam der Krebsalltag wieder ein.

Nun bin ich gespannt, wie ich die letzten beiden Chemo-Zyklen überstehe, wie dann der Endbefund aussieht, und ob ich dann noch die Ganzhirnbestrahlung bekomme, vorbeugend gegen Hirnmetastasen. Aber wenn ich Ablenkung brauche, habe ich nun viele Bilder und Eindrücke, die ich aus dem Schatz meiner Erinnerungen hervorholen kann.

Beste Grüße
Ecki