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Alt 20.11.2010, 21:31
yagosaga yagosaga ist offline
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Registriert seit: 29.04.2010
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Liebe Leserinnen und Leser, liebe hier Antworteten,

Eure Rückmeldungen haben mich ebenfalls tief berührt und getröstet.

Meine Familie trägt natürlich auch sehr schwer an meiner Krebskrankheit und lebt an der Grenze der Belastungsfähigkeit, vielleicht sogar darüber hinaus, und es tut mir ebenfalls weh, das mitzuerleben.

Dass ich "so sprachfähig" geblieben bin, rechne ich mir nicht als Verdienst an, ich empfinde es als ein Geschenk von Gott. Überhaupt, die Kraft, die mir Gott vor über acht Monaten bereits im Gebet versprach, und die ich immer wieder empfange und erlebe, wenn ich mich an ihn wende. Für mich ist klar, dass Gott der einzige ist, der mir bleibt, wenn ich im Tod von allen und von allem Abschied nehmen muss. Tastend und fragend suche ich immer wieder nach ihm, und finde ihn auch, - wie soll es bei mir anders sein -, in der Bibel, in der Hebräischen Bibel und im sog. Neuen Testament.

Die schöne Erfahrung heute vor einer Woche war ein Geschenk von ihm, in der er mir zeigte, dass ich allein durch seinen Lebensatem lebe. Zieht er sich von mir zurück, so bleibt nur noch eine Leiche übrig. Aber die schon kurz darauf folgende Traurigkeit, als der Lichtstrom in mir und der Glanz draußen wieder unsichtbar wurden, war auch notwendig, damit eine solche geschenkte Erfahrung nicht zur Sucht wird und mich auf Abwege verführt. Eine Art Schutz.

Umgekehrt habe ich im Krankenhaus mit neuem Interesse in der Bibel gelesen. Das Buch Hiob las ich in einem Zuge am letzten Vormittag im Krankenhaus am letzten Dienstag, und mir wurde vieles bewusst, was mir bis dahin verborgen geblieben war. Auch wird der christliche Gott für mich zunehmend wichtiger, der Gott, den "niemand gesehen hat", wie es im Johannesevangelium heißt, der sich aber im Menschen Jesus aus Nazareth zu erkennen gibt demjenigen, der ihm glaubt. Es gibt keine Gottesbeweise. Aber der Gott am Kreuze, der gefolterte und in Jesus unschuldig hinrichtete Gott, ist für mich wichtiger geworden.

Nur ein Gott, der ungerechtes Leiden aushält, und der den Weg durch das Sterben in den Tod selber geht, nur ein solcher Gott kann für mit mir in meiner eigenen unerbittlichen Krebserkrankung solidarisch sein. Von einem "erhabenen Gott", im Himmel fernab von allem menschlichen Leid, unempfindsam für die Not der Menschen, habe ich nichts, einen solchen Gott will ich nicht. Ich weiß, dass dieser Gott kein Gefallen am menschlichen Leid hat.

Damals vor fast 2000 Jahren hatte er in Gestalt Jesu begonnen, das Reich Gottes auf Erden zu schaffen, in dem "wie im Himmel so auf Erden" sich sein Wille durchsetzt. Und sein Wille ist, dass alles heil wird, dass der Tod nicht mehr sei, noch Leid noch Geschrei. Und er wird abwischen alle Tränen. All das hat damals seinen Anfang genommen, in dem Jesus Menschen heilte, in dem er Außenstehende und an den Rand Gedrängte (z.B. Frauen, Kinder, Kranke, Ausländer, Huren, Trinker, u.v.a. Außenstehende) wieder in den Mittelpunkt stellte, sie wieder in die Mitte der Gesellschaft holte. All das hat er damals nur angefangen. Wir sind aufgerufen, daran weiter zu arbeiten. Ob wir es je (mit seiner Hilfe?) hier vollenden können?

Noch ist das Reich Gottes unterwegs, und manchmal scheint mir, es wird noch Äonen, Ewigkeiten brauchen, bis es sich völlig bei uns durchgesetzt hat. Anzusehen, wie wir mit unserer Lebensweise und wie unsere Politik dem Unheilvollen auf diesem Planeten immer mehr Raum gibt, könnte mich zur Verzweiflung bringen. Aber auch das habe ich lernen müssen: Ich bin nicht Gott. Ich kann nur in diesem meinen mir gegebenen Einflussbereich versuchen, Gutes zu bewirken. Und oft genug versage ich auch schon dabei... Wenn mir etwas gelingt, dann ist das auch ein Geschenk, dann habe ich das nicht aus mir heraus, auch in dem Sinne, wie ich nicht aus mir heraus, aus eigener Kraft lebendig bin.

Für mich ist der Gott wichtig, der inmitten meiner Krankheit mitfühlen und mitleiden kann. Dass er das kann, lerne ich aus den biblischen Evangelien, daher empfange ich auch meine Kraft.

Freilich weiß ich, dass all das für Einige Leserinnen und Leser, die andere Standpunkte haben, anstößig klingt. Aber ich bin in meinem Krebs inzwischen zu weit fortgeschritten, um mich ggf. "taktvoll zurückzunehmen". Vielleicht will ich auch anstößig oder sperrig sein?! Darüber denke ich jetzt nicht nach. Weiß ich denn, wieviel Zeit mir noch bleibt? Ich freue mich jedenfalls, dass ich hier ein Forum habe, wo ich Dinge schreiben kann, die sonst nur selten Raum haben im Alltag. Und ich danke allen, die sich die Mühe machten, mir bis hierher zu folgen. Bleibt behütet! (Und ich hoffe, dass ich hier noch lange schreiben kann und darf.)

Beste Grüße
Ecki