AW: Wut
Hallo Fuzzi,
eigentlich bin ich ja bereits seit nunmehr fast 3 Jahren auf der anderen Seite des Zauns. Trotzdem lese ich hier bei euch ab und an noch und finde mich immer wieder selbst in euren Beiträgen. Ich kenne deine Wut nur zu gut.
Wir werden wütend, wenn wir keinen Ausweg wissen, mit dem Rücken an der Wand stehen, nicht weglaufen können, machtlos daneben stehen und zusehen müssen, wie ein geliebter Mensch leidet und wir ihm oder ihr das Leid nicht abnehmen können. Ich kenne auch das Gefühl der Ungerechtigkeit. Man weiss ja schon, dass es ungerecht und unfair ist, andere, fremde Menschen unter unserer Wut (und Angst!) leiden zu lassen. Trotzdem kommen diese Gedanken und manchmal lässt man es sogar raus und fügt damit Dritten Leid zu, obwohl man genau weiss, wie unfair das ist.
Warum ist das so? Ich glaube, Wut und Angst sind Gefühle, die zusammen gehören. Es sind Relikte unserer Evolution und haben über Jahrtausende das Überleben unserer Spezies gesichert. Unsere Vorfahren konnten diese Gefühle noch austoben. Sie haben sich verteidigt .... oder sind einfach weg gelaufen. Beide Taktiken sicherten so ihr Überleben und unser Dasein.
Die Rechnung war ganz einfach: willst du mich töten, versuche ich dich zu töten. Willst du mir meine Jagdbeute abnehmen, versuche ich, mir dein Mammut unter den Nagel zu reissen. Willst du meine Sippe zerstören, so zerstöre ich deine ........ oder ich laufe einfach weg und suche mir ein anderes Plätzchen, wo ich in Ruhe leben kann. Eine simple, einfache Rechnung, die heute so nicht mehr funktioniert, nicht funktionieren kann in unserer Gesellschaft und bei dieser sch... Krankheit sowieso nicht. Die Gefühle von Wut und Angst, die gibt es jedoch immer noch in gleicher Intensität wir vormals. Da hat sich nichts verändert. Wohin also mit diesen Gefühlen? Wie sie ableiten oder kompensieren?
Sie unterdrücken hilft nicht. Höchstens für kurze Zeit. Sie austoben, um sich schlagen? Geht auch nicht. Hinzu kommt, dass wir die Gefahr für den geliebten Menschen sehen. Wir kämpfen auch um ihn. leiden mit ihm, versuchen alles, ihn oder sie wieder gesund werden zu lassen. Solange wir sehen, dass etwas Gutes dabei rauskommt, Erfolg da ist, haben wir ein Ventil. Irgendwann kommt dann die Ernüchterung, Zweifel, ob es denn wirklich einen Erfolg geben wird oder unsere Verteidigung sinnlos ist. Da findest du dich. Dann werden auf einmal Ernüchterung und Zweifel zur Gewissheit. Müdigkeit macht sich breit, manchmal auch Hass.
Weglaufen, die zweite Taktik? Die eigene Haut retten? Ja und nein. Es gibt Menschen, die laufen weg. Die/der eine früher, die/der andere später. Überall und in jeder Leidenssituation gibt und wird es Menschen geben, die das tun. Wir haben das alle erlebt und es hat weh getan. Es liegt mir fern, das zu verurteilen, ohne die Beweggründe zu kennen.
Die eigene Haut retten? Ja! Als Angehörige/er leiden wir mit. Den Tumor des anderen, den kann man mit den Händen greifen, versuchen in zu töten, ihn aus dem Körper zu entfernen. Zwar nicht selbst, doch mit Hilfe von Anderen. Der Tumor, das Leid des Patienten ist was greifbares, reales. Das eigene Leid, das kann man jedoch nicht greifen. Es existiert nur in unserem Kopf, in unserer Seele. In unserem Herzen, wenn man so will. Wenn auch mit durchaus körperlichen Konsequenzen.
Wie einige bereits geschrieben haben, hab ich es auch gemacht. Ich bin in den Wald, wo ich alleine war. Habs rausgeschrieen, getobt, geweint, Äste zertrümmert. Bin auch zeitweise "weg gelaufen". Hab mir eine Auszeit genommen. Beim Spaziergang im Wald, im Verein. Das musste sein um nicht selbst kaputt zu gehen, um wieder Kraft zu tanken, einen klaren Kopf zu bekommen. Nicht nur für mich, sondern vorallem auch um meiner Frau voll und ganz zur Seite stehen zu können. Und auch, um irgendwann zu akzeptieren, dass der Kampf verloren war. Das gibt die Kraft, auch die letzten Schritte noch gemeinsam zu gehen bis zum Ende. Das hat nichts mit "Aufgeben" zu tun, im Gegenteil. Da sei dir sicher.
Ich weiss nicht, ob du an einen Gott glaubst. Ich schon. Immer noch und vielleicht auch deswegen und in einem bin ich mir absolut sicher: mit diesem "alten Mann mit Bart" (wie manche das liebevoll ausdrücken) da oben hat das Ganze nichts zu tun. Das ist keine Prüfung oder so was in der Art. Das ist das Leben mit allen guten und schlechten Seiten. Es ist nicht so, dass ein Gott, Allah oder Manitou (wie auch immer man ihn nennen will) dem einem Menschen unsägliches Leid zufügt oder ihn gar tötet, nur um einen anderen Menschen zu prüfen. Was nicht heissen soll, es gefiele ihm nicht, wenn wir diesen gequälten Menschen nicht im Stich lassen.
Versuche deine Wut, deine Angst, in Bahnen zu lenken, die Dritten nicht weh tun. Versuche zwischendurch mal ab zu schalten und dadurch neue Kraft zu tanken. Nur so kannst du deinem Vater wirklich helfen. Wut und Angst, die nur in uns drinnen wüten, vernebeln irgendwann unsere Sinne. Damit ist niemandem gedient. Weder dir noch deinem Vater. Am allerwenigsten deinem Vater. Vielleicht suchst du dir auch professionelle Hilfe? Daran ist nichts ehrenrühriges.
Alles Liebe für euch
Helmut
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