AW: Selbsthilfegruppe Zungenkarzinom
Liebe amöbe,
manchmal wünsche ich mir, wir könnten mit dem Tod versöhnlicher umgehen, den ja jeden betrifft. Auch ganz Gesunde. Obwohl wir das alle wissen, verhalten wir uns so, als gelte das nur für die anderen und verdrängen ihn für uns selbst. Ich selbst allen voran! Unser Leben ist ja vergleichsweise kurz. Wie viele alte Gemäuer aus dem vorigen Jahrhundert gibt es, die uns locker überlebt haben oder über hundertjährige Bäume oder die Natur an sich. Da sind die 80 Jahre durchschnittlich fast winzig. Wie wohltuend wäre es für uns alle, wenn wir den Tod als etwas ganz Normales empfinden würden, als das gute Ende eines jeden Lebens, gleichgültig wie dies verlaufen ist. Wenn wir es als tröstlich empfinden könnten, dass der Tod uns eines Tages liebevoll empfängt. Wer in aller Welt hat uns das ausgetrieben und den Tod als etwas Dumpfes und Düsteres dargestellt und wir alle sind darauf hineingefallen?
Auch mit der Liebe ist es manchmal ein schwierig Ding. Deine Liebe zu Deiner Mutter, Deine gemischten Gefühle für Deinen Vater, Deine Zuneigung und Verantwortung Deinem Mann und Deinen Kindern gegenüber, die Hoffnung auf ein gutes Miteinander mit den Eltern und auch der eigene Platz, den man braucht, aus sich selbst heraus und aus der Anerkennung derer, die drum herum sind.
In Deinem Alter steht man in der Mitte, hinter einem die Eltern, die nach und nach ihre Rolle verändern, vor einem die eigenen Kinder, für die man häufig das darstellt, was die eigenen Eltern für einen selbst waren, positiv und negativ.
Allein die Situation ist jeweils Fakt. In Eurem Fall die schwere Erkrankung einer gestandenen Frau, Deiner Mam, Deines Vaters Ehefrau, Deiner Kinder Oma, Deines Mannes Schwiegermutter, einer nahen Verwandten, einer Freundin Vertraute vielleicht, je nach dem.
So unterschiedlich wie die Aufzählungen sind entsprechend die Wahrnehmungen der bestehenden Situation und der Blickwinkel der Einzelnen dazu. Wenn wundert´s, dass es da zu unterschiedlichen Auffassungen kommt und auch zu Irritationen in dieser bedrohlichen Situation.
Du erinnerst Dich sicher, dass wir in früheren Beiträgen darüber "gesprochen" hatten, dass ich nur meine engste Familie, also meinen Mann, meine beiden erwachsenen Töchter und deren Lebensgefährte von meiner Krankheit unterrichtet habe. Ich bin voll berufstätig und habe auch da die Krankheit verheimlichen können. Mein Mann konnte das nicht nachvollziehen, fand, dass diese Krankheit doch keine Schande sei. Darum ging es mir nicht. Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt geschämt. Ich hatte nur keine Lust, von jedem angesprochen zu werden, gute Ratschläge zu erhalten, überhaupt Gesprächsthema zu werden im Freundes- und Kollegenkreis und ich wusste, dass ich mich jederzeit outen kann, wenn ich das Bedürfnis habe. 2 1/2 Jahre sind vergangen und ich habe keine Sekunde daran gedacht, diese Entscheidung zu revidieren. Jeder meint, ich hätte eine äußerst unangenehme Kieferknochenentzündung gehabt, deshalb nicht essen können, deshalb viel abgenommen (super, super) und durch die damit verbundene totale Zahnsanierung eben immer wieder ein wenig Probleme. Das wars! Wie angenehm!
Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Deine Mam ebenfalls vor, um die Krankheit kein "Tamtam" zum machen. Operation, Bestrahlung, vielleicht noch ein wenig Chemo und dann wieder zurück in die Normalität, vielleicht mit Einschränkungen, aber das schafft eine starke Frau allemal. Und dann der nächste Schock - nicht nur Verschlechterung des Zungen-Ca sondern dazu auch noch Brustkrebs und nochmal OP und nochmal Chemo! Das haut die stärkste Frau um und den bisher in allen Lebenslagen sich stark gefühlten Ehemann auch. Da kriecht Entsetzen ins Bewusstsein, Ohnmacht macht sich breit, Angst lähmt jeden Gedanken und Zorn kommt auf über diese Ungerechtigkeit. Draußen spielt sich das Leben wie immer ab, so als wäre nichts geschehen. Die Erde dreht sich weiter und ist vom eigenen Schicksal völlig unbeeindruckt. Wenn Ärzte dann auch noch daherkommen wie die Axt im Walde, hat man keinen Plan mehr. Und den hatte man früher immer und für alles, starke Frau!
Und dann Du als Tochter - hängst an ihr, liebst sie, so wie es sein soll - und spürst Verlassensangst und Unsicherheit, was denn wirklich richtig zu tun ist, damit die Mam zumindest alles erhält, was möglich ist - immer wissend, dass selbst das Allerbeste nicht gut genug sein wird. Hast Angst um ihre Seele - wer kann schon ertragen, wenn ein geliebter Mensch leidet - bist unsicher, wie Du Dich verhalten sollst, was die richtigen Worte sind, wann Zuwendung gezeigt werden darf und wann eher Distanz gewünscht wird.
Wie soll Du das erkennen können, wenn wir Betroffenen es oft selbst nicht wissen? Wir uns mal ganz viel Nähe und Verständnis wünschen, auch mal richtig bemitleidet und verhätschelt werden wollen und dann aber auch genervt sind, wenn gerade das eintritt und wir eigentlich nur Ruhe haben wollen! Schwierige Genossen, manchmal.
Da wird deutlich, wie wichtig Toleranz und Nachsichtigkeit auf beiden Seiten ist. Und ungeschicktes Verhalten auf beiden Seiten viel leichter zu akzeptieren ist, wenn man weiß, letztlich steht hinter allem die Liebe, auch wenn sie manchmal übers Ziel hinausschießt. Denn keiner verübelt tatsächlich dem anderen, dass er geliebt wird.
Geh auch behutsam mit Dir selbst um. Du musst nicht immer alles richtig machen, das geht wahrscheinlich gar nicht in dieser bleiernen Zeit.
Fahr´ so viel wie möglich zu ihr, versuche Deinem Vater seine schroffe Art nachzusehen, steh´ drüber, wenn’s geht und sage Dir, er kann nicht anders. Denn ich glaube auch nicht, dass er sich ändern wird. Das heißt, nur Du kannst Deinen eigene Einstellung ändern, damit Du Ruhe und Frieden findest.
Obwohl wir uns alle hier nicht persönlich kennen, wissen wir, dass wir nicht alleine sind, weil uns die Forumteilnehmer verstehen und in Gedanken bei uns sind. So auch ganz sicher intensiv bei Dir, wie auch bei Sylverlady und allen anderen.
Mein Bericht wurde sehr lange. Eigentlich wollte ich Dir einfach kundtun, dass Du mich sehr berührst, weil Du für mich hier die Tochter-Situation schilderst und mich immer wieder zum Nachdenken bringst über meine eigenen Töchter. Deine Mam kann sich glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben. Das hilft ihr ganz sicher in ihrer Situation.
Alles Liebe und ein ruhiges Wochenende wünscht - auch allen anderen
Lisa
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