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Alt 15.06.2003, 23:04
Gast
 
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Standard Diagnose Lungenkrebs

So, da bin ich wieder.

Ja, wie gesagt, meine Mutter ißt weniger als wenig. Nun bin ich mir manchmal nicht sicher, ob sie nicht essen KANN oder nicht essen WILL. Ich möchte ihr da nichts unterstellen, und ich kann mich schließlich auch nicht in ihre Lage versetzen. Aber wenn sie 20 mal hintereinander wie ein Mantra sagt „ich kann nicht essen, ich kann nicht“, Mahlzeiten schon ablehnt, bevor wir sie ihr überhaupt angeboten haben und nach einem Fruchtgläschen meint, sie hätte „zuviel gefressen“, dann bin ich mit meinem Latein am Ende!

Manchmal spricht sie davon, dass die Ärzte im KH ja eigentlich in 2 Wochen schon wieder die nächste Chemo mit ihr vorhaben. Dann sagt sie „die sollten mich jetzt mal sehen“. Meine Schwester, dass sie vielleicht aus Trotz nicht essen will, so nach dem Motto „jetzt habt ihr mir die Hammer – Chemo verpasst, jetzt werdet ihr sehen, was ihr davon habt“.
Der Witz ist: sie weiß ja, dass alles Süße ihr nicht schmeckt. Trotzdem müssen wir ihr Äpfel reiben, Eis kaufen und Säfte. Dann nimmt sie ein bißchen in den Mund, verzieht das Gesicht, sagt „Iih, ist das süß, nein, dass kann ich nicht essen“ und ich muss es wegschmeißen. Aber das ihr zum Beispiel das Eis nicht schmecken würde, habe ich vorher schon gewußt. Und ich vermute, sie auch. Dann kriege ich das Gefühl, ich musste es nur kaufen, damit sie einmal mehr beweisen kann, was sie alles nicht essen kann.
Und wenn ich sowas denke, fühle ich mich schon wieder schrecklich ungerecht. Ich darf ihr doch nichts unterstellen, denn ich weiß ja nicht, wie sie sich wirklich fühlt. Vielleicht hat sie wirklich gehofft, es würde ihr bekommen! Wenn sie die Milchsuppe wegschiebt, weil sie meint, wenn sie das isst übergibt sie sich, wie kann ich ihr unterstellen, sie übertreibe?
Ich hasse mich selbst in solchen Augenblicken dafür, dass ich ihr gewisse Dinge unterstelle. Dann tut sie mir schon wieder schrecklich leid, und ich frage mich, wie um alles in der Welt ich das alles schaffen soll, was die Zukunft uns bringt.

Dann ihr Husten: sie spuckt wesentlich weniger Schleim als noch vor kurzem. Dafür hustet sie mehr. Es ist ein trockener Husten, und meistens spuckt sie nicht viel aus. Aber ich habe manchmal den Eindruck, sie hustet absichtlich wie verrückt, mehr als eigentlich nötig. Zum Beispiel kurz nachdem sie das Fruchtglas gegessen hatte. Da stand sie im Bad und hat gehustet wie verrückt. In dem Moment kam mir der Gedanke, ob sie vielleicht mit Absicht erbrechen wollte, den Hustenattacken haben schon öfter dazu geführt .Ich dachte, vielleicht will sie mich dafür bestrafen, dass ich sie dazu gekriegt habe, was zu essen, indem sie es wieder erbricht, um dann zu sagen „siehst du?!“.
Doch dann frage ich mich wieder, wie ich dazu komme, so etwas zu denken. Und sie tut mir wieder furchtbar leid, weil ihr einfach nichts schmeckt.
Vielleicht isst sie auch so wenig, weil sie eben so eine Riesenangst vor dem erbrechen hat, was ich wirklich gut verstehen kann. Aber dafür sind schließlich die zwei Mittel, und wenn sie sich permanent einredet, sie müsse sich gleich übergeben, dann ist die Wahrscheinlichkeit auch höher!

Ich möchte nicht, dass ein Betroffener, der dies hier vielleicht liest den Eindruck bekommt, ich wolle alles besser wissen. Nein, ich habe noch keine Chemo hinter mir und weiß nicht, wie es einem danach geht. Ich bin auch kein Kranker, der trotz aller eigenen Bemühungen nur Rückschläge hinnehmen musste und immer elender wird.
Deswegen bin ich mit meinem Urteil über meine Mutter vorsichtig. Und wenn sie jetzt einfach ein Phase hat, in der sie frustriert und demotiviert ist, dann kann ich das verstehen. Sie hat so lange gekämpft, vielleicht hat sie einfach die Schnauze voll davon, und das kann ich ihr nicht verübeln. Ich hätte das Handtuch wahrscheinlich schon viel eher geworfen.
Langer Rede kurzer Sinn: ich weiß nicht, was jeweils die Gründe für ein bestimmtes Verhalten sind. Als besorgter und liebender Angehöriger mache ich mir eben meine Gedanken dazu. Eben auch weil ich mich immer fragen muss: wie kann ich da helfen? Was kann ich am besten tun?

Meine Mutter ist zum Teil sehr patzig zu meinem Vater. Ich habe hier schon öfter gelesen, dass die Person, die den größten Teil der Pflege übernimmt es dem Kranken plötzlich nicht mehr recht machen kann. Vielleicht spielt da der unterbewußte Frust eine Rolle, dass man selber so leidet und der Partner aber völlig gesund ist. Auch da kann ich nur spekulieren.
Aber wenn sie dann so ungerecht zu ihm ist, werde ich wütend auf sie. Dann kriege ich wieder Schuldgefühle und Mitleid. Ich denke, ich darf nicht wütend auf sie sein, denn sie ist totkrank. Dann denke ich mir wieder, nur weil sie krank ist, hat sie nicht das Recht so patzig, zum Teil fast aggressiv zu werden. Aber dann überwiegt doch wieder das Mitleid. Mein Vater und meine Schwester sehen da wohl als erstes den Menschen und reagieren dann schon mal selber ein bißchen harscher. Ich jedoch kann das nicht. Ich denke mir, dass sie nicht mit Absicht so ungerecht ist, und sie es schwer genug hat.
Ich lasse ihr sicherlich deswegen nicht alles durchgehen, vor allem nicht, was das essen angeht. Aber ich schweige lieber und bringe eine Eselsgeduld auf. Und frage mich: in ihrer Situation, braucht sie da den Tritt in den Hintern oder Trost? Oder ihre Ruhe?
Eines weiß ich aber ganz bestimmt: den Tritt in den Hintern kriegt sie nicht von mir!
Wenn ich so darüber nachdenke, könnte ich schon wieder heulen. Ich hasse es, dass ich mir überhaupt solche Gedanken über meine Mutter machen muss. Auf der einen Seite denke ich manchmal, das ist überhaupt nicht mehr derselbe Mensch. Sie ist so anders, seit sie hier zu Hause ist. Doch auf der anderen Seite weiß ich, das ist Mama, und ich würde alles tun, wenn ich ihr irgendwie helfen könnte.

Ich habe mich schon manches Mal bei dem Gedanken ertappt, es möge doch einfach alles vorbei sein. Der Zustand, wie er jetzt ist, kann nicht ewig so weitergehen. Wenn es die Möglichkeit gäbe, mit dem Finger zu schnippen und alles wäre in Ordnung, dann werde ich das natürlich tun. Ich wünsche meiner Mutter schließlich nicht den Tod. Und ich weiß, dass ihr Tod mir so unvorstellbaren Kummer bringen würde, dass ich schon wieder merke, dass der Wunsch nicht ganz der Realität entspricht. Der Gedanke, dass sie irgendwann einfach weg ist, ist immer noch furchtbar weit weg!
Und dann fühle ich mich auch schuldig, weil ich denke, ich habe sie aufgegeben, bevor sie es selber getan hat. Und das will ich nicht, habe mir geschworen, das nicht zu tun.

Doch im Moment fühle ich mich wie in einem Zeitloch. Alles dreht sich nur noch um die Krankheit. Die Tage haben ein unheimliches Gleichmaß. Wir alle in meiner Familie bringen einfach nur die Tage hinter uns und harren der Dinge, die da kommen mögen. Es regt sich nichts. Und doch, so sehr ich mir Veränderung wünsche, so sehr fürchte ich mich auch davor.

Wenn ich Menschen im Zug sehe, die einfach lachen und sich über Banalitäten unterhalten, komme ich mir vor wie ein Außerirdischer. Ich kann diese Leute nur staunend beobachten und belauschen, und die Unbeschwertheit, die sie haben kommt mir völlig fremd vor.
Ich will mich nicht beschweren, dass ich jetzt nicht unbeschwert sein kann. Ich wünsche mir diesen Zustand nicht um meinetwillen, sondern für meine Mutter herbei. Denn ich könnte nur unbeschwert sein, wenn sie gesund wäre.
Ich will nur sagen, ich bin gar nicht wütend auf andere Menschen wegen ihrer Sorglosigkeit. Ich staune einfach nur darüber.

Das war jetzt wirklich viel, und ich habe immer noch nicht alles ausgedrückt.

Ich hoffe nur, ihr fangt jetzt nicht das schielen an nach diesem schier endlosen Beitrag.
Selbst wenn ihr es nicht alles lest, bin ich doch froh, es einfach aufgeschrieben zu haben. Meine nächste Umgebung will ich mit diesen Wirren nicht auch noch zuschütten.

Ich habe eure Beiträge in den letzten tagen verfolgt und wollte zu so vielen Sachen auch was sagen. Aber ich hab die Zeit nicht gefunden, und jetzt lass ich es auch besser, sonst sprenge ich endgültig den Rahmen.

Vielen Dank für´s zulesen, und macht euch keinen Kopf, weil ihr mir nicht helfen könnt: ihr helft mir schon, weil ihr einfach da seid und besser als andere versteht, was ich meine. Und schließlich hat jeder von euch genug damit zu tun, sich über die eigenen Probleme den Kopf zu zerbrechen.

Ich drück euch alle, schicke jedem einen Danke – Schmatzer und wünsche euch eine erholsame Nacht!
Alles Liebe,
Katrin
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