AW: September
Liebe Ina,
um es gleich zu Beginn zu sagen: Nein, Deine Reaktion hat absolut nichts mit Undankbarkeit zu tun, auch wenn es Deine Freundin so empfinden mag. Wenn es nicht so einen pathetischen Beigeschmack hätte, würde ich sagen: Du hast nur Deine persönliche Freiheit verteidigt.
Auch ich möchte nicht mit Hilfeleistungen "vergewaltigt" werden. Solange ich dazu in der Lage bin, möchte ich frei entscheiden können, welche Hilfe ich annehme und welche nicht. Ich gebe zu, es fällt mir nicht immer leicht, die Unterstützung anderer in Anspruch zu nehmen, aber die Zeit, die ich brauche, um mich eventuell doch dafür zu entscheiden, sollten mir andere doch gewähren können.
Ich denke, es ist ganz wichtig, auch in engen Beziehungen - sei es Liebe oder Freundschaft - ein freier Mensch bleiben zu dürfen. Da halte ich es mit J.G. Herder, der im 18. Jahrhundert, als ein immenser Freundschaftkult herrschte wurde und alle nur von verschmelzenden Seelen, gleichen Gedanken und absolutem Gleichklang sprachen, die Ansicht vertrat, dieses Freundschaftskonzept tauge nichts. Gleichklang sei weder möglich noch erstrebenswert, unterschiedliche Töne müßten es sein. Nur aus zwei unterschiedlichen Stimmen könne sich ein harmonischer Zusammenklang ergeben.
Ich kann mir vorstellen, daß es jetzt schwierig ist, einen Weg im Umgang mit Deiner Freundin zu finden. Sie scheint ja sehr in der Nähe zu wohnen, wenn sie schon die ganze Nachbarschaft einbezogen hat. Da ist es nicht leicht, Abstand zu schaffen.
Ich weiß nicht, wie es Dir insgesamt mit ihr geht, aber mein Vater sagte mir mal, Beziehungen müßten sich im Notfall lösen lassen. Er verglich sie mit Skibindungen und meinte, feste Bindungen würden einem normalerweise erlauben, sich frei auf der Piste zu bewegen. Aber man dürfe nicht auf Gedeih und Verderb festgeschnallt sein. Wenn es hart auf hart käme, müßten die Bindungen aufgehen, damit man sich nicht den Hals bricht. Wie gesagt, ich weiß nicht, ob Ihr bereits so weit miteinander seid. Es geht nur um den Extremfall, wenn ein solcher Unfall einen zu zerbrechen droht.
Liebe Ina, es tut mir so leid, daß bei Dir so entsetzlich viel zusammenkommt! Hoffentlich läßt sich wenigstens gegen den Husten und die Atemnot bald etwas tun. Wenn es schon so weit ist, daß Du deswegen erbrechen mußt, läßt sich das ja keineswegs dauerhaft aushalten...
Ach, Du arme Ina, ich hoffe so sehr, daß es Dir bald besser geht!
Laß Dich mal ganz sanft umarmen von
Deiner Linnea
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Einen Menschen zu lieben heißt:
Ihn zu sehen wie Gott ihn gemeint hat.
Liebe ist das Geheimnis der Brotvermehrung.
- Christine Busta -
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