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Alt 28.09.2003, 21:54
Gast
 
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Standard Wünsche für Michi

Stell dir mal vor...
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Weisst Du, wie ein Mensch sich fühlt,
wenn er realisiert, dass er immer weniger wird,
wenn er vom Schatten seiner selbst erschrickt,
wenn sich Dinge an ihm im Zeitraffertempo verändern?
Dinge, die ihm ein Leben lang vertraut waren, ihm plötzlich entrissen werden und er sich selbst fremd und fremder wird?

Nein?
Dann versuch einmal, Dir folgende Situationen vorzustellen:

Eines Morgens stehst Du vor dem Spiegel
und eine unbakannte Person glotzt dich an,
komischerweise trägt sie den selben Schlafanzug wie du, mit einem Kakaofleck an der exakt gleichen Stelle wie deiner - nur spiegelverkehrt. Sie macht auch alle Bewegungen mit.
Und plötzlich wird dir klar, dass kann kein Zufall sein und du begreifst: Das bin ja tatsächlich ich!
Oder du triffst Dein Spiegelbild in der Stadt und es grüsst Dich höflich,
aber Du kannst nur dämlich fragen: Müsste ich Sie kennen?

Auch Nachbarn kennen Dich nicht mehr auf der Strasse, und die, welche Dich noch kennen,
merken nur wegen Deiner Klamotten, wer Du bist.
Eines Tages aber ist Dir alles zu weit
und du trägst wieder Kleidergrösse 152.

Zu allem Überfluss
reagiert Dein Körper auf all die Nahrungsmittel,
die Du mögen würdest, allergisch,
sämtliche Milch-, Butter- und Rahmprodukte
sind nun auch noch verboten
und du musst dich mit dem grausligen Sojazeug ernähren.

...und dann jener Morgen, an dem dich scheinbar alle Kräfte verliessen und du es nicht fertigbringst, den Aludeckel auf dem Soja-Heidelbeer-Joghurt zu entfernen.
Niemand ist zu Hause, der dir helfen könnte,
du bist zu doof, um zu merken, dass du ihn mit der Schere einstechen könntest,
und du musst zur Nachbarin,
um ihr die peinliche Frage zu stellen, ob sie es dir aufmacht.
Sie versucht, gelassen und normal zu wirken -
aber du siehst das blanke Entsetzen in ihren Augen.

Bei der grossen Visite im 4-er-Zimmer.
Der Ärztetross schiebt sich vom 1. Bett zum 2. Bett zum 3. Bett und geht raus, ohne dich noch eines Blickes zu würdigen.
Und du sitzt im 4. und verstehst die Welt nicht mehr!
In der Nacht danach träumst Du,
du wärst am Flughafen bei der Personenkontrolle
und der Beamte klatscht, während er dich abtastet, die ganze Zeit in die Hände,
du fragst, was das denn soll und er antwortet, das Abtasten gehöre zur Kontrolle.
Da kapierst du endlich: An mir ist wohl nicht mehr sehr viel dran!

Irgendwann fragt dich ein 16jähriger, ob du mit ihm gehen willst. Er sagt, er mag Deine Ausstrahlung.
Du fühlst dich wie im Siebten Himmel,
aber auch verpflichtet, ihm deine 30 Jahre einzugestehen.
Das geht dann doch nicht.
Schade für beide...

Oder du rufst eine Freundin an und ihr Mann meldet sich.
Du fragst, ob sie zu erreichen ist und er legt grusslos auf.
Du glaubst an einen Irrtum und wählst noch einmal die Nummer.
Wieder kommt ihr Mann, wieder fragst Du nach der Freundin, da schimpft der Mann mit Dir: "Willst mich wohl veräppeln, Kleine? Hör besser auf, die Mama mag es nicht, wenn das Telefon soviel kostet!"
Wieder bleibst du zurück, verstehst nicht, warum er dich nicht ernst nimmt, bis dir bewusst wird,
dass es wegen deiner leisen Stimme ist, die durch die Bestrahlungsfolgen wie jene eines kleinen Kindes klingt.

Du fühlst dich einsam, sehnst dich nach Kontakt,
und doch musst du jedem ausweichen, der sich dir nähert,
die Leute meinen, du wolltest gar nicht, dass man zu dir kommt und fangen an, dumm zu reden.
Sie denken, dass Haare das einzige sind, was man durch eine Krebstherapie verliert, sie wissen nichts von Abwehrschwäche.

Kannst du dir jetzt ein wenig vorstellen, wie so ein Mensch sich fühlt, der immer weniger wird? Ja?
Dann kannst Du ein Stück der Ohnmacht, der Verzweiflung und der Einsamkeit spüren, die ich empfand in der letzten Zeit....

Ladina, April 1997