AW: habe heute chemo-und strahlentherapie begonnen
Mein liebes Leenchen,
das mit Deinem Großvater tut mir sehr leid! Es ist merkwürdig, der November und der Dezember scheinen die Monate zu sein, in denen sich besonders viele Menschen auf den Weg machen. Woran das wohl liegt? Für mich hab ich diese Frage letztes Jahr beantwortet, als Antonia sich verabschiedet hat. Es ist die dunkelste Zeit im Jahr, die Zeit der inneren Einkehr, der Besinnung, des Nachdenkens. Rilke schreibt es so schön in seinem "Herbsttag": "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben..." Mit anderen Worten: Jetzt kommt es auf die Schätze an, die wir uns angesammelt haben. Wie Frederick vielleicht, die Maus, die den Sommer über Licht und Farben gesammelt hat, während die anderen Mäuse Korn heimbrachten. Es ist die Zeit, in der wir uns elementare Fragen stellen, über Wichtiges nachdenken, in der einfach viel im Innern stattfindet.
Und zugleich ist es die Zeit, in der wir aufs Licht warten, auf die "geweihte Nacht". Eigentlich ist es doch eine schöner Moment zu sterben, in einer Zeit, in der alle auf die Geburt Christi warten. Wie kann uns deutlicher werden, dass das Sterben den Eintritt in ein neues, anderes Leben bedeutet?
Für mich ist das ein äußerst tröstlicher Gedanke. Vielleicht kannst Du ihn im Hinblick auf Deinen Großvater teilen.
Ich wünsche Dir und ihm nur, dass er nicht lange leiden muss...
Alles Liebe, Leenchen!
meliur
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