AW: Chemo bei ProstataCa wird nicht besser
Soderle, da bin ich wieder, weil ich mir jetzt einfach die Zeit gestohlen habe...
Liebe Chica,
die Sonne... ja, sie bewirkt Wunder, auch bei einem so schwer kranken Menschen wie deinem lieben Paps. Wenn sie nur in ALLEM helfen könnte!
Auch wenn sich das etwas blöd anhört:
Ich dachte auch daran, dass dein Paps kämpft, weil er seine Enkeltochter unbedingt sehen möchte.
Der Mensch braucht ein Ziel – und ist es noch so klein.
Er muss etwas haben, an das er sich klammern kann, auf das er sich freuen darf und von dem er weiß, was ihn beim Erreichen erwartet.
Die Krankheit ist die schlimmste Ungewissheit, die den Menschen treffen kann.
Er weiß, was mit ihm los ist, aber er weiß nicht, was noch kommt, wie schlimm es noch werden kann oder ob alles wieder gut wird. Die Krankheit bestimmt sein Leben und wird ihm alles nehmen, was er von Herzen liebt!
Chica, ich möchte dich nicht traurig machen, wenn ich jetzt schreibe, dass du lernen musst, ihn loslassen zu können.
Vielleicht hat sein Innerstes sich wirklich sein Enkelkind als Ziel gesetzt.
Wenn dem so ist, dann hat er erreicht, was er wollte und dann darf sein aussichtsloser Kampf, seine Schmerzen, seine Müdigkeit und Kraftlosigkeit ein Ende haben. All das darf endlich der Stärke der unendlichen Liebe und der Hoffnung auf ein Wiedersehen mit euch allen aus und von ihm verschwinden. Es hört dann endlich auf.
Ich wollte niemals meinen Papa verlieren. Niemals. Das will keiner.
Und schon gar nicht auf eine solch schmerzhafte Art.
Als ich aber sah, wie schlecht es ihm ging und wie tapfer er war und wie stark er gekämpft hat, um sich nichts anmerken zu lassen, habe ich gehofft, dass sein Kampf bald ein Ende haben darf! Ein starker, tapferer, aufrechter Familienvater – das Oberhaupt – zeigt körperliche Schwäche. Zugegeben hat er sie nie!
Aber sich vor seinen Liebsten so präsentieren zu müssen, ist sicher niederschlagend, demütigend und tut sehr, sehr weh.
Chica, vielleicht kannst du es irgendwann ähnlich sehen, dass dein Paps – wenn er sein Ziel erreicht hat – endlich aufhören darf, Schmerzen auszuhalten und sich als Last zu fühlen. Vielleicht kannst du ihm irgendwann wünschen, dass er seine Reise bald antreten darf.
Das STARREN kenne ich. Hat mein Papa auch getan.
Es war kein aggressives Starren. Ich habe dann „um ihn herum“ geschwätzt, mich mit meiner Mama unterhalten, normale Sachen gesagt, in die er sich jederzeit hätte einklinken können, wenn er gewollt hätte.
Aber er signalisierte mir, dass er bei uns ist, gab mir das Gefühl, mir zuzuhören, aber nichts reden zu wollen. Reden strengte ihn zeitweise sehr an. Logisch, wenn die Kraft nachlässt...
Ich weiß nicht, wohin er gestarrt hat und warum er immer auf die gleiche Stelle gestarrt hat. Er saß auf der Couch im Wohnzimmer und starrte im Esszimmer auf die Uhr. Vielleicht wars auch ein kleiner Teller, der daneben an der Wand hing, vielleicht wars auch die Struktur der Tapete... keine Ahnung.
Zu deinem Bruder:
Ich muss Babe recht geben. Vielleicht flieht er vor seiner Angst, seinen Papa eines Tages verlieren zu können. Vielleicht kann er damit nicht umgehen, ihn zu sehen und nichts tun zu können.
OK, damit können wir alle nicht umgehen, aber er ist ein MANN und die sehen gewisse Dinge einfach anders, diesbezüglich vielleicht dramatischer.
Chica, ich kann mir vorstellen, dass sich in dir ein kleiner Zorn aufbaut.
Mir ging es ganz genauso. Ich war immer präsent, jeden Tag da, wenn nötig auch mehrmals oder Nachts. Ich habe getan und gemacht, um meiner Mama einige Dinge abzunehmen, die Papa nicht mehr tun konnte. Ich habe nur die beiden gesehen und mich. ICH, ICH, ICH.
Nichts anderes hat für mich eine Rolle gespielt. Ich wollte das auch so.
Meine Geschwister wohnen teilweise weit weg. Mein großer Bruder wohnt 25km entfernt und war auch fast jeden Tag da.
Ich habe ihm sogar Dinge „aus der Hand gerissen“, also Sachen erledigt, die er tun wollte. ER wollte doch auch was für Papa machen, aber ich kam ihm zuvor. Ich MUSSTE das für mich tun. Ich, Ich, Ich.
Ich wollte mich für alles opfern.
Ich lasse mir auch heute nicht gerne das Ruder aus der Hand nehmen.
Ich habe mir damit eine Menge Stress gemacht. Zu der Angst, die ich eh schon hatte.
Und irgendwann wird es einfach zu viel. Man fühlt sich leer, kaputt, ausgelaugt. Aber man möchte trotzdem nicht aufhören, etwas zu tun.
Ich musste immer unter Strom stehen, immer eine Aufgabe haben. Ich wollte nicht zum Nachdenken kommen. Ich habe mich nach RUHE gesehnt, aber wenn sie da war, konnte ich sie nicht genießen.
Meine anderen Geschwister, die weiter weg wohnen, konnten sich natürlich nicht so um Papa kümmern. Und das machte mich zornig, weil ich das Gefühl hatte, alles würde an mir hängen bleiben.
Dem war ganz sicher nicht so.
Was bitte sollten sie tun aus 100 - 300km Entfernung, wenn schnell gehandelt werden musste? Sollten sie extra herkommen, damit sie mehrmals wöchentlich ein Rezept in der Apotheke holen durften oder den Beforderungsschein zur Chemofahrt?
Nein, natürlich nicht.
Heute gebe ich zu, dass ich seelisch überfordert war mit der Situation: geliebter Papa todkrank, Mama entnervt und fertig, alle ängstlich, planlos, hoffnungslos, unsicher – und ich hab alles in mich aufgesogen und meine Angst, meine Entnervung kam auch noch dazu. Aber DA hätte mir niemand helfen können. Ich habe es getragen, wahrscheinlich, weil ich es tragen wollte.
Ich hatte auch meine Mama „am Back“. Sie hängt sehr an mir, schon immer. Und manchmal sind wir wie Katz und Maus und dann wieder wie zwei Ulknudeln.
Aber ihre Angst übertrug sich auch noch auf mich. Ich musste auch für ihre Angst und ihre Art zu reagieren Verständnis aufbringen. Das hat nicht immer geklappt.
Ich habe ihr öfter durch die Blume gesagt, dass sie sich nicht beschweren soll. Sie müsse immerhin nicht mit dieser Krankheit fertig werden, sondern ER müsste es.
Mama wollte einfach nur mal gehört werden, wollte Verständnis.
Meine Mama hat ihre eigenen „Todesängste“ um Papa gehabt. Und ich denke, sie waren um einiges mehr verglichen mit den unseren. Sie wird ihren Lebenspartner verlieren, sie sieht mit an, wie er immer weniger wird und kann nichts tun. Sie wird neben ihm alt, aber nicht mehr mit ihm. Ihr Mittelpunkt verschwindet immer mehr.
Jetzt wird sie 80 und meistert ihr Leben sehr gut – aber in jeder Stunde erwähnt sie ihren geliebten Mann, unseren Papa.
Und Recht hat sie.
Chica, meine einzige Bitte an dich ist – und ich spreche aus guter Erfahrung – mach alles so weiter wie bisher:
Nutze jede Minute mit deinem Dad, das Meiste nebenbei kann in den Hintergrund treten.
Kümmere dich auch um deine Mama. Sie trägt einen größeren Batzen Last als ihr Kinder, die ihr eure Partner habt und eure Familie, euer Leben. Ihres wird irgendwann gebrochen und sie muss sich neu organisieren und sortieren.
Halte mit deinen Geschwistern zusammen, auch wenn du das Gefühl hast, dass sich einer weniger kümmert oder sorgt als der andere. Manchmal kommt es einem vielleicht nur so vor.
Chica, melde dich bitte bald wieder. Ich denke so oft an dich!
Habt eine schöne Zeit mit viel Sonne und vielen schönen Momenten, in denen man auch mal lachen soll und darf.
Drück dich.
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Alles Liebe.
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Papa, für immer in meinem Herzen - 31.12.2007
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