AW: Myriam
Guten Morgen Gerda,
danke für deine aufmunternden Worte. Ja, wir werden uns Hilfe holen. Es gibt da viele Angebote. Die Frage für mich ist nur: was ist das Beste für sie? Ist es wirklich das Beste, sie bis zum Schluss zu Hause zu behalten? Ich seh doch schon, wie es jetzt läuft. Den grössten Teil des Tages sitzt sie im Sessel und strickt. Alleine. OK, morgens geh ich runter, geb ihr ihre Tabletten, dann geht unter der Woche noch an's Brotauto, mittags gibts dann was zu essen und Abends wieder ihre Tabletten.
Dazwischen hat sie nur dann jemand zum Reden, wenn ich in den Keller muss oder in den Garten. Bei meiner Tochter ist das genauso. Ist es nicht auch so, dass sie in einem guten Heim mehr Unterhaltung hätte, mehr Kontakte zu Menschen, mehr Aktivität? Dort geht man mit ihnen spazieren, sie kann sich mit anderen stundenlang über immer wieder das gleiche Thema unterhalten, es fällt ja weder ihr, noch den anderen auf. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich dort wohler fühlen könnte als zu Hause. Nur mit enormem Aufwand könnten wir ihr vielleicht das gleiche bieten.
Bereits heute müssen wir die Haustür abschliessen, tausend Kleinigkeiten sind zu beachten. Ständig ist irgendwas, ständig das Ohr im Treppenhaus: was macht sie jetzt wieder im Flur? Zu jeder noch so kleinen anderen Tätigkeit muss sie animiert werden. Nicht nur das, auch beobachtet, ob sie es wirklich macht. Bei jedem Mittagessan das gleiche Gespräch. Egal, was auf dem Tisch steht: "Meinem Mann hätte ich das jeden Tag kochen können. Das war sein Lieblingsessen." "Bei meiner Mama war dies, mein Papa hat das immer gemacht." Du kennst das garantiert.
Noch lässt sie sich lenken. Wie lange noch? Wann muss ich sie in ihrer Wohnung einsperren damit sie nicht wegläuft? Ich hab erlebt, wie das in der weiteren Bekanntschaft ablief. Tochter und ihr Mann sind selbst fast durchgedreht. Keine ruhige Minute mehr. Eine Alternative wäre eine Betreuung rund um die Uhr hier zu Hause. Das geht allein von den räumlichen Gegebenheiten nicht. Diese Person müsste ja hier wohnen. Mal abgesehen davon, dass so eine Person nicht finazierbar ist. Stunden- oder tageweise Betreuung bedingen einen hohen organisatorischen Aufwand. Ständig muss mit irgendwem abgeklärt werden, wer denn jetzt zu bestimmten Zeiten zu Hause ist und wo Schwiegermutter wann hingebracht oder abgeholt werden muss. Termine platzen, weil an irgendeiner anderen Stelle die Planung nicht funktioniert. Und was mach ich, wenn meine Tochter auszieht? Dann sitz ich in diesem riesigen Haus und höre ausser dem Singsang meiner Schwiegermutter unten nur noch mein eigenes Echo. Ich kann ihr, wenn es denn irgendwann soweit ist, nicht die Windeln wechseln, sie waschen, wenn es mit dem Stuhlgang nicht so ganz geklappt hat.
Egal wie man es anfängt, dreht oder wendet: die Person, die jemanden mit dieser Krankheit zu Hause betreut, hat nicht mehr wirklich eigenen Freiraum. Verschnaufpausen vielleicht, das wars dann aber auch schon.
Und genau das ist mein Problem. Ich schaff es gerade mal mein eigenes Leben inzwischen einigermassen zu organisieren. Hab immer noch oft heftigst den Tod meiner Frau zu verarbeiten und zu verkraften. Ich habe meine Frau über 1 1/2 Jahre hautnah begleitet. Ständig unter Druck. Bis zum ihrem allerletzten Atemzug. Es geht mir nicht darum, mein restliches Leben mit aller Gewalt zu geniessen: ich schaff das nicht nochmal, schon garnicht für andere.
Was dabei noch viel wichtiger ist: der Grossmutter meiner Frau war dement. Meine Frau hat gesehen, was da abgeht. Sie hat bei der Pflege geholfen. Wir haben darüber gesprochen und sie hat zu mir gesagt: sollte meine Mutter genauso werden, dann geht sie halt in ein Pflegeheim.
Alles Liebe
Helmut
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