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Alt 14.08.2010, 11:32
yagosaga yagosaga ist offline
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Standard AW: Kleinzeller mit Fernmetastasen

Liebe Alle!

Durch die Chemotherapie bin ich sehr geruchsempfindlich geworden. Wenn ich die Tür zum Kühlschrank aufmache, bekomme ich öfter einen Schock. Zwiebeln, Kohl, das riecht gar nicht gut. Von anderen Gerüchen ganz zu schweigen...

Aber durch diese Empfindlichkeit sind sehr viele Erinnerungen aus meiner Kindheit wieder zum Vorschein gekommen.

Meine Kindheit, das war die Zeit der 1960er Jahre auf einem südniedersächsischen Dorf. Damals gab es noch nicht soviele Autos. Wir Kinder spielten abends auf der Straße, malten mit Kreide, die Mädchen spielten Gummitwist, und wenn alle halbe Stunde mal ein Auto vorbei kam, dann ging man kurz zur Seite. Die Erwachsenen hatten alle ihre kleine Bank vor dem Haus, da saßen sie und genossen die Abendstimmung.

Im Herbst lag häufig ein würzig-frischer Geruch in der Luft. Regelmäßig zog der Schäfer mit seiner Schafherde durch die Straße, die Schafe hielten das Gras kurz. Die Schafherde zog auch durch die Feldmark und am Wald entlang, und hielt das Gras kurz. Das war für uns Kinder schön, wir konnten gut laufen. Seitdem es heute keine Schafherden mehr gibt, wächst das Gras lang, und man kann nicht mehr so schön über die Wiesen gehen.

Am liebsten ging ich als Kind zum Schuster. Da roch es unvergleichlich gut nach Leder, Gerbsäuren, solch ein herber, strenger Geruch, den ich liebte. Auch bei uns zuhause in den Hühner- und Junghennenställen hielt ich mich gern auf, da roch es süßlich-warm nach Hühnermist und Stroh. Andere Gerüche waren die gebohnerten Holztreppen im Haus oder der Geruch der Zweitaktmotoren auf der Straße, wenn solch ein Auto mal vorbeiknatterte.

Es gab auch Autos mit Holzvergaser. Holzteer roch sehr scharf, aber auch interessant.
Geradezu exotisch roch es in einem alten Kolonialwarenladen in unserem Nachbardorf. Im Laden war in der Mitte eine dunkle, hölzerne Theke, und dahinter eine hohe Schrankwand mit lauter kleinen Schubladen, in denen sich Knöpfe, Gewürze, Schrauben, Nüsse und alles mögliche verbargen. Wenn ich Sahnequark haben wollte, holte die Frau ihn aus einem Faß oder einer großen Kanne mit einer Kelle und wickelte ihn dann in Wachspapier ein. So bekam ich ihn dann mit nach Hause. Milch gab es in Flaschen abgefüllt, ebenfalls aus einer großen Kanne.

Bei uns zuhause gab es ein Radio. Radiohören konnte ich auch riechen. Wenn das Radio eine halbe Stunde lief, verströmte es einen warmen, leicht verschmorten Geruch. Das kam von dem Hausstaub, der sich innen auf den Röhren abgelagert hatte, und wenn die Röhren 200 bis 300 Grad heiß wurden, "briet" der Staub auf ihnen.

Gleich nach dem Schuster kam für mich der Bäcker Niemeyer. Der Geruch von frischem Obstkuchen lag immer in der Luft. Die Spezialität war ein gedeckter Kirschkuchen mit einer Art dunklem Eierschaum oben drauf.

Es gab auch Leute im Dorf, von denen hielt man sich eher fern. Diebe, Kinderschänder. Oder wenn zum Beispiel ein Hund verschwand, dann hieß es, lasst uns mal bei Huhns in den Kochtopf schauen. Die beiden alten Huhns hatten wohl im Kriege zu Zeiten des Hungers Hunde gegessen und sich das dann in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit wohl nicht mehr abgewöhnt. Mir war das unheimlich, was, wenn die auf die Idee kamen, dass auch Kinder schmecken könnten...

Dicht am Wald gab es auch Wildblumen- und Kräuterwiesen mit würzigen Gerüchen, wie ich sie heute nur noch aus Griechenland kenne. Viele dieser Gerüche aus meiner Kindheit gibt es heute nicht mehr, weil das Handwerk ausgestorben ist oder die Technik vieles monotoner werden ließ. Auch der Reichtum der Natur hat abgenommen. Bei uns waren früher ständig Insekten in der Luft, nach einer Fahrt mit dem Auto in die nächstgelegene Stadt mussten wir die Windschutzscheibe frei kratzen von Insekten, damit man wieder gut durchgucken konnte. Heute bleiben die Windschutzscheiben selbst bei langen Autobahnfahrten sauber, und die Gerüche, die heute die Sinne betören, sind künstlich geworden.

Beste Grüße
Ecki