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Alt 29.04.2011, 06:49
Zetchen Zetchen ist offline
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Registriert seit: 02.02.2011
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Standard AW: Machs gut Mama...

An die, die dieses Thema lesen, sorry für den langen Textblock der jetzt folgt, aber ich musste es niederschreiben.



Hallo Mama...

jetzt ist es schon wieder nach 6 Uhr morgens und ich bin immer noch nicht im Bett. Ich bin mir sicher du würdest dich darüber wieder ganz furchtbar aufregen und wir würden uns dann darüber streiten, weil ich der Meinung wäre es sei ja meine Entscheidung wann ich ins Bett gehe... immerhin sei ich ja volljährig. Wie oft haben wir uns darüber gestritten. Eigentlich wirklich banal.
Aber es geht einfach nicht. Gerade im Moment kann ich nicht schlafen. Habe wieder mal wahnsinnige Angst. Angst vor der Zukunft, Angst um Papa, der gerade unten die Rollläden hochzieht. Du weißt ja, er konnte noch nie lang schlafen...
Ich fühle mich so furchtbar hilflos. Vor einem Jahr schon hatte ich keine Ahnung, keine Persepektiven bezüglich der Zukunft. Da war ich noch in der Schule, kurz vorm Abitur... du warst so froh, dass ich es bestanden habe, wenn auch nicht mit dem schönsten Durchschnitt.
Erinnerst du dich noch an die Abifeier? Wie du dich über das Essen aufgeregt hast und wie dämlich das geplant und umgesetzt war?
Ich erinnere mich noch dran wie wir fast eine halbe Stunde in der Reihe standen und versuchten etwas vom Buffet zu ergattern...
Jetzt, wo du nicht mehr da bist, habe ich noch weniger Perspektive als zuvor, lebe nur noch in den Tag hinein. Spät aufstehen, PC, kochen, PC, spät ins Bett. Tagein, Tagaus, nur manchmal etwas Abwechslung z. B. wenn wir einkaufen müssen.
Mir fehlt die Motivation irgendwas zu machen, mir fehlt schon allein die Vorstellungskraft mich irgendwann mal in einem Beruf zu sehen. Und dann fühle ich mich so unglaublich schuldig. Weil es Leute gibt, die gerne einen Job hätten, aber keinen kriegen. Und ich würde nur Papa und dem Staat auf der Tasche liegen, arbeitslos.
Apropos Papa. Ja, er ist erst 54, hatte vorgestern erst Geburtstag (zu dem ihm fast keiner gratuliert hat... von deinen Bekannten hat keiner angerufen, schon traurig oder?), Opa wurde 90, Oma auch ein paar Achtzig bis der BSDK kam, wir könnten noch locker 30 Jahre haben, aber trotzdem plagen mich schon jetzt die Ängste - was mache ich wenn ihm was passiert? Was mache ich, wenn er krank wird? Was mache ich, wenn er ganz plötzlich wie du weg ist und ich ganz alleine bin?
Und wenn er davon spricht, dass ihm das Sitzen im Garten keinen Spaß mehr macht, dass ihm allgemein nichts mehr Spaß macht, dass er den Gemüsegarten wegmachen will... keine neuen Blumen mehr kaufen... das macht mich so furchtbar traurig, zieht mich auch runter.
Ich habe Angst, dass ich aus diesem Loch nie wieder rauskommen werde. Seit du krank wurdest im Dezember fühle ich mich gefangen. Gefangen zwischen "Ich will nicht mehr leben" und "ich will noch nicht sterben." Manchmal habe ich geradezu gefleht ich möge doch einfach den Verstand und meine charakterliche Existenz verlieren, alles was mich als Mensch definiert, damit das Leben einfacher wird...
Und jetzt, wo du weg bist, sitze ich manchmal bis spät vorm PC und habe Angst davor, im Schlaf einfach zu sterben, Papa allein zu lassen. Und diese Zukunftsängste. Zwangsgedanken die sich mir Abends seit Tagen immer wieder aufdrängen. Nichtmal ein Tag vergeht an dem ich nicht daran denken muss. Die letzte halbe Stunde habe ich wieder viel geweint, ich wundere mich woher ich überhaupt all die Tränen nehme. Dürften doch schon keine mehr da sein... Sowieso habe ich die letzten Wochen und Monate mehr geweint als in meinem ganzen Leben zuvor. Und sogar H. habe ich geschockt damit. Sie hat mich immer bewundert, weil ich so neutral und kühl war in der Art, aber deine Krankheit hat alle meine Schutzwälle niedergerissen und mich ganz klein und hilflos zurück gelassen...
Ich wünschte du könntest mir irgendwie ein Zeichen geben Mama. Vielleicht im Traum. Weißt du, vor ein paar Tagen habe ich geträumt sie hätten dich im Krankenhaus wiederbelebt um den Krebs doch noch zu bekämpfen und ich habe mich ganz fürchterlich darüber aufgeregt, was für einen Schaden das doch deinem Körper bringen würde, deinem Gehirn, weil du schon Tod warst für eine lange Zeit.
Schon irgendwie absurd, manche Träume...
Überhaupt habe ich seit deinem Tod ein paar Mal von dir geträumt Mama. Im ersten Traum... da war alles ganz normal... Sonntag Abend, es gab Gulasch zu essen, das du gekocht hast. Normalerweise weiß ich doch in Träumen, dass eine Person tot ist, wenn sie es in der Wirklichkeit ist, aber in diesem Traum habe ich mir nichtmal Gedanken darüber gemacht. Wir haben einfach nur wie gewöhnlich zu Abend gegessen. Nur dein Gesicht war irgendwie überschattet die ganze Zeit... komisch. Ich habe dich auch nie richtig angesehen im Traum.
Dann einmal geträumt... da weiß ich nicht mehr um was es ging, aber du hattest den Krankenhauskittel an, daher warst du da wohl schon krank, lagst auch in einem Bett...
In einem anderen Traum hab ich bei dir im Krankenhausbett gelegen und mich an dich gekuschelt...

Ich würde gerne wieder von dir träumem Mama... wie gerne hätte ich einen luziden Traum in dem ich mich mit dir unterhalten kann...

Herrje, jetzt ist es schon fast sieben Uhr... wird Zeit, dass ich ins Bett komme. Hoffentlich sind morgen diese Kopfschmerzen endlich weg... hab sie seit drei Tagen. Ich weiß nicht, ob es von der Medizin kommt, die mir Haus- und Frauenarzt verschrieben haben (stand in den Nebenwirkungen bei beiden Medikamenten) oder vom Wetter.

Draußen zwitschern die Vögel schon... ohje ich schlafe bestimmt wieder bis um 15/16 Uhr. Dann regt Papa sich dann wieder auf, weil er den ganzen Tag allein ist. Aber selbst wenn ich um 10 Uhr schon auf den Beinen wäre, bin ich mir nicht sicher ob ich mehr Zeit unten verbringen würde. Es drückt mir einfach nur ziemlich auf die Stimmung wenn ich unten sitze und mit Papa fernsehe. Sitze leider lieber vorm PC und chatte oder sehe Videos um mich abzulenken... was jedoch auch nur für einen Moment funktioniert und dann denke ich wieder an dich Mama.
Ich hätte dir zu deinen Lebzeiten öfter "ich hab dich lieb" sagen sollen (in den letzten Jahren hab ich das ja nie gemacht!), aber ich kann sowas einfach nicht. Zu Papa kann ich es auch nicht sagen. Manchmal frage ich mich, ob ich einfach nicht in der Lage bin solche Emotionen zu verstehen und rüberzubringen...
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liebe Grüße,

Zetchen

"Wir verstehen den Tod das erste Mal, wenn er seine Hand auf eine geliebte Person legt." - Madame de Stael

Ich hab dich lieb, Mama
*26.07.1961 - † 30.03.2011
So tapfer gekämpft... und doch verloren...
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