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Alt 27.11.2007, 22:17
Gabriele M. Gabriele M. ist offline
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Standard AW: Die Hilflosigkeit ist so groß

Hallo ihr Lieben,

ich lese jeden Tag in diesem Forum, doch weiß ich nicht, wie ich anfangen soll zu schreiben. Jeden Tag kommen neue Fälle, jeden Tag neue Töchter, Söhne, Ehepartner mit der gleichen Angst und Verzweiflung, die ich so kenne.

Liebe Kathleen, liebe Bianca, ich würde so gern schreiben, dass ich mich für Euch freue - ich glaube in irgendeiner Ecke meines Herzens tue ich das auch - nur ist mein Herz im Moment schwer und traurig.

Meine Mutter geht den letzten Weg. Wir sind jeden Tag mehrere Stunden bei ihr und begleiten sie. Leider sind uns unsere Hände gebunden, wir können nicht viel für sie tun. Sie magert immer mehr ab, die Schmerzdosen werden erhöht und trotzdem klagt sie über Bauchschmerzen und Übelkeit. Einer der Tumore ist so groß, dass er mittlerweile eine Beule in die Bauchdecke schiebt.

Wenn ich da bin, halte ich ihr oft die Hand, eine Geste, die sie früher nie zugelassen hätte. Wie es um ihre Haare aussieht, ob ihr Nachthemd richtig sitzt - es interessiert sie nicht mehr. Noch vor 3 Wochen hat sie sich ins Bad geschleppt, damit ich ihr die Haare wasche, sie fühlte sich unwohl mit ungewaschenen Haaren, seit Freitag versuche ich, sie zu überreden, dass die Pflegerinnen ihr die Haare im Bett waschen, ohne Erfolg. Sie liegt nur noch, dämmert vor sich hin, ab und zu sieht sie uns aus halbgeöffneten Augen an und flüstert etwas zu dem Gesprächsthema, das wir gerade haben, aber es strengt sie meistens so sehr an, dass sie sofort wieder schläft. Gestern hatte sie wieder einen Fieberschub den man aber mit viel, viel Medikamente wieder gesenkt hat. Wenn sie etwas trinkt wird ihr augenblicklich übel und hin und wieder erbricht sie, obwohl sie eine Magensonde hat. Und das alles erträgt sie ohne ein Wort der Klage. Wie mögen ihre Gedanken aussehen?

Mein Herz hat sich irgendwo verkapselt, sonst würde es das alles nicht aushalten. Wenn ich Mutti so liegen sehe, eine Frau, abgemagert zu Haut und Knochen, herabgezogenen Mundwinkeln, eingefallenen Wangen, dann sehe ich eine fremde Frau. Sie hat nichts mit meiner Mutti zu tun. Doch dann sieht sie mich an, versucht zu lächeln, drückt mir mit aller Kraft sanft die Hand - dann sehe ich wieder meine wunderschöne Mutti, warte darauf dass sie über irgendetwas meckert oder fragt, was ihr Urenkelchen macht - im nächsten Moment dreht sie den Kopf weg und ist wieder die Frau aus Haut und Knochen. Ist das normal? Es ist doch immer meine Mutti.

Vati hat sich auch damit abgefunden, dass wir Mutti zu Weihnachten nicht mehr haben werden. Und wenn wir den Verfall der letzten 3 Wochen bedenken, dann ist es für Mutti vielleicht sogar besser, wenn sie Weihnachten schon ihre Ruhe gefunden hat. Das, was sie im Moment mitmacht hat sie auf keinen Fall verdient.
Wenn ich aus dem Krankenhaus gehe muss ich jedesmal weinen bis es mich schüttelt. Doch auf dem Weg nach Hause, der ja immerhin 30 Minuten dauert, beruhige ich mich und irgendwie ist es, als wenn ich in eine andere Welt fahre.

Zu Hause erwartet mich meine Enkeltochter. Läuft meistens mit ausgestreckten Ärmchen auf mich zu und möchte "musen". Sie legt dann ihr Köpfchen an meine Schulter und umarmt mich mit ihren kleinen Ärmchen. Als wenn sie wüsste, dass Omi Trost braucht. Trotz aller Traurigkeit, die mich jetzt ständig begleitet, ist es schön, dass noch jemand da ist, die völlig rücksichtslos ihr Recht auf Liebe einfordert. Die allein durch ihre Anwesenheit und ihr drolliges Verhalten von der Traurigkeit ablenkt und zeigt, dass es auch noch schöne Dinge gibt.

So lebe ich derzeit in zwei völlig gegensätzlichen Welten.

Da sich bei uns jetzt ein Tag an den anderen reiht, mal etwas positiver aber meistens schlechter als der vorherige, bis Muttis Herz nicht mehr schlagen wird - werde ich wohl nicht mehr viel mitteilen.

Ich wünsche Euch allen - tja was wünsche ich Euch. Habt Eure Mutti noch lange in so guter Gesundheit bei Euch, dass sie an Euer Leben teilhaben kann.

Gabi
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