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Alt 02.06.2017, 14:13
Marlene2014 Marlene2014 ist offline
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Standard AW: Künstliches Koma

Liebe Adlumia, liebe Christine und liebe Tatus,
eure Worte tun so gut! Es ist bei aller Trauer schön, dass man gehört und verstanden wird. In meiner Familie ist der Austausch nämlich nur sehr eingeschränkt möglich, es sind alle anders in der Verarbeitung. Mit Mutter zu reden ist schlicht unmöglich.

Adlumia, du schreibst, ich hätte mir andere Entscheidungen für meinen Vater gewünscht. Das stimmt. Ich muss, um es auch nur ansatzweise erklären zu können, etwas ausholen. Meine Eltern wurden beide in den 30er Jahren geboren, sind also Kriegskinder. Ihre Kindheit war geprägt von Bomben (Mutter) und Flucht (Vater). Sie haben sich jung kennengelernt und geheiratet. In der Ehe hatte meine Mutter das Sagen. Beide waren sehr fürsorglich, fleißig, lebten nur für sich und die Familie. Alles was von "außen" kam, auch jede andere "moderne" Ansicht, jeder "Fremde", alles wurde abgelehnt. (Ich als Tochter war die Rebellin.) Sie lebten ein großes NEIN nach außen, nach innen Friede, Freude, Eierkuchen, heile Welt, "in unserer Familie hatte noch niemand Krebs", uns geht's doch so gut.
Von den 5 nicht genutzten Überweisungen zum Orthopäden seit 12/2012! erfuhr ich erst vor wenigen Wochen, weil ich bei ihrem Hausarzt nachfragte, wie diese Katastrophe passieren konnte. Es gibt ja Schmerztabletten.
Die Diagnose Cup Mitte 2014 wurde schlicht geleugnet. Not-OP, zerstörter Wirbel, aber es wurden keine Krebszellen gefunden. (jedenfalls keine eindeutigen, was genügend Spielraum ließ, die Diagnose sich schönzureden). Die Nachuntersuchungen waren alle o.B., so schöpfte selbst ich bis Mitte 2016 Mut und Vertrauen. Was meine Eltern uns allen verschwiegen haben: Bereits 7/2016 war eine winzige Veränderung sichtbar, zu winzig, um Eingang in die Akten zu finden. Ich war bei dieser Untersuchung leider nicht mehr dabei, weil ich dachte, alles sei gut. Hab ich alles hinterfragt in der Klinik. Meine Eltern hatten ja Urlaub geplant im September 2016, der selbstverständlich angetreten wurde. Dass ich Sturm gelaufen wäre, hat meine Mutter hinterher zugegeben und beide waren froh, bis Januar nicht mehr in die Klinik zu müssen. Die Schmerzen jedoch nahmen zu, Mutter wiegelte ab. War alles nur eine falsche Bewegung. Den ganzen Winter hindurch wurde es schlimmer!
Um es abzukürzen: Mein Vater war wie ein Kind. Er hat alle Entscheidungen meiner Mutter überlassen, und die redete alles schön. Motto: Es kann nicht sein was nicht sein darf. Ab Februar 2017 war ich wieder überall dabei bei allen Gesprächen. Als meine Eltern von der Notwendigkeit einer Chemo erfuhren, weinten beide. Grund: Eine Sitzung dauert 3 Stunden, und 3 Stunden muss mein Vater meine Mutter alleine lassen. Was soll man da sagen wenn man dabei ist als Tochter??? Ich war geplättet. Mutter schimpfte, sie sei dann ganz alleine, ging ins Café oder spazieren, was ihr ohne Papa aber gar nicht gefiel. Die Untersuchungen in der Klinik und alles dauerte ihr zu lange. Mutter wünschte sich nichts so sehr herbei wie diesen Juni, denn da "sind alle Strapazen ausgestanden". Ich hätte jedes Mal schreien können, weil ich mir dachte, Mutter, das willst du nicht wirklich. Anders gesagt: Das Unglück hab ich in aller Deutlichkeit kommen sehen. Was hätte ich sagen sollen? Tun? Nichts!
Mir kommt es so vor, als seien Vater und Mutter meine Kinder und ich für sie verantwortlich. Das ist mein Problem.

Christine und Tatus,
auch von mir mein herzliches Beileid!
Beim Sterben dabei sein...seine Engsten und Liebsten waren an Papa's Sterbebett auf der Intensivstation. Die Betreuung der Ärzte war hervorragend, die Intensivärztin hat sogar geweint. Das hat mich sehr beeindruckt.
Nur: Papa konnte nicht sterben, weil wir um Mitternacht zu fünft wiedergekommen sind, um ihm Beistand zu leisten.
Ein Trost dabei ist, dass er aus dem tiefsten Koma heraus spürte, dass wir da waren. Und auch wieder nicht! Die Medikamente, die er bekommen hat hab ich mir notiert. 700-1000 x so stark wie Morphium. Er KONNTE unsere Anwesenheit theoretisch nicht spüren. Für mich ist das ein starker Hinweis auf die Seele, die den Tod überdauert. Trotzdem haben wir seinen Tod durch unser Dabeisein um viele Stunden hinausgezögert, mussten zum Schluss sogar noch die schwere Entscheidung treffen, ihn sterben zu lassen durch Wegnahme der künstlichen Beatmung. Wir haben es ihm unnötig schwergemacht...vielleicht hilft euch das?
Die Medizinerin begleitete uns die vielen Tage vorher, als die Hoffnung starb. Sie sprach von einem Plan, den wir alle nicht kennen. Mich tröstet dieser Satz. Als der Tod eintrat sagte sie: "Jetzt verlässt die Seele den Körper." Ja, man kann sagen, mir hat das Erlebte den Glauben nähergebracht. Ohne den Glauben an ein Wiedersehen könnte ich mir derzeit ein Weiterleben gar nicht vorstellen.

Tatus, was die Entscheidungen der Mediziner angeht, OP oder nicht, Chemo, Bestrahlung, denke ich , muss man vertrauen. Hinterher, ja hinterher wusste der Onkologe, dass Papa schon zu schwach war für die Chemo. Niemand will eine Chance verschenken. Wir rieten Papa lebhaft dazu. Ich auch. Es sei eine leichte Chemo. Er vertrug nur 2 Infusionen. Diese problemlos. Nach der 3. kam die todbringende Infektion. Was der Krebs in der Zwischenzeit machte, weiß niemand. Niemand kennt den Plan.
Wer weiß. Vielleicht war der Plan, Leiden zu verhindern?

Euch auch allen viel Mut in den entscheidenden Augenblicken, Kraft und ein geruhsames Pfingstfest!

Liebe Grüße, Marlene
"An den Wegkreuzungen des Lebens stehen keine Hinweisschilder."

Geändert von Marlene2014 (02.06.2017 um 14:26 Uhr) Grund: was vergessen
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