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Alt 30.10.2006, 20:45
Norma Norma ist offline
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Registriert seit: 06.11.2005
Beiträge: 1.157
Standard AW: Nimm sie in deine Arme oh Herr....und gib mir mehr Kraft!

Danke Cryssy, Danke Denise!

Liebe Denise,

es tut mir sehr leid, dass das Verhältnis zu deiner Mutter nicht das Beste ist.

Meine Mama hat mir öfter mal erzählt, dass es zu ihrer Kinderzeit von ihren Eltern überhaupt keine direkte Zuwendung gab.
Die Kinder wurden gut versorgt, bekamen ihr Essen, die Kleidung wurde gewaschen und die Körperpflege war auch O.K.
Darüber hinaus war es absolut NICHT üblich, dass Kinder mal in den Arm genommen wurden oder dass die Eltern offen über ihre Liebe zu den Kleinen gesprochen haben.
Nach Meinung meiner Mama waren es die schlechten Zeiten damals, die Sorgen, die Kinder einigermaßen durchzubringen waren größer als der Gedanke an Zuwendung.
Hatte ein Kind sich das Knie aufgeschlagen, wurde die Wunde mit Wurzelbürste und Schmierseife behandelt. *grausig!*
Dann gab es ein Brot in die Hand und das Kind wurde wieder zum Spielen geschickt. Das wars....
Kein Trösten, kein "in den Arm nehmen", keine Liebe.
Heute undenkbar für mich!

Diese Kindheit hat meine Mama schwer geprägt und sie hat ihre Erfahrungen natürlich an ihre eigenen Kinder weitergegeben (diese brutale Methode der Wundbehandlung allerdings ausgeschlossen. ;-) ).

Erst, als ihre Kinder selbst eigene Kinder hatten und sie sah, wie WIR damit umgingen, hat sie langsam begriffen, dass es mit Liebe besser geht.
Von da an waren Begrüßungs- und Abschiedsküsschen normale Rituale und wir alle merkten, dass es ihr sehr gut gefallen hat.

Leider hat sich bereits vor einigen Jahren ihr Gehirn langsam aber sicher verschlechtert und ihre garstige Seite kam rigoros zum Vorschein.

Alles bis dahin gelernte und angewendete Verhalten war WEG.
Sie wurde launisch, ungerecht, aufbrausend, störrisch, misstrauisch und total ICH-bezogen.

Natürlich hat uns das alle belastet, allerdings hat sich viel später herausgestellt, dass sie einen "stummen" Schlaganfall und dieser diese absolute Wesensveränderung hervorgerufen hatte.

Danach folgte dann ein 2. Schlaganfall, der zusätzlich zu schlimmen Erinnerungslücken führte.

Ich weiß nicht, inwieweit DEINE Mama nun garstig ist und inwieweit sie in deiner Seele Schaden angerichtet hat. Aber nach deinen Zeilen zu urteilen müssen wohl heftige Dinge passiert sein.....

Mit 85 Jahren wirst du deine Mama nicht mehr ändern können, auch Gespräche über Vorfälle von früher werden für dich keine Befriedigung mehr bringen. Irgendeine Art von Verständnis oder gar Einsicht wirst du nicht mehr erhalten.
Es heißt, alte Menschen werden zu Kindern....und zumindest auf MEINE Mama traf das zuletzt auch zu.

Trotz allem sind unsere Mütter diejenigen, die uns auf die Welt gebracht haben, nicht wahr?
Die uns trotz schlimmster Zeiten irgendwie großbekommen haben...egal, ob nun mit Liebe und Wärme oder ohne.

Wenn es aber aufs Ende zugeht (und mit 85 kann es ja jeden Tag soweit sein), liebe Denise, dann solltest auch du alle Gemeinheiten und Ungerechtigkeiten zur Seite schieben (vergessen kann man das sowieso nicht) und für die Mama da sein.

Da liegt ein sterbender Mensch, der trotz des Alters noch am Leben hängt und nicht loslassen kann und will.
Wer DANN die Stärke besitzt und dabei bleibt bis zum Ende, zeigt ganz deutlich, dass er Gleiches nicht mit Gleichem vergilt!

Auch wenn es fast unmenschliche Kraft kostet, liebe Denise....wehren kann sich eine Sterbende sowieso nicht mehr und ich glaube fest daran, dass sich diese Mühe letztendlich auch lohnt.
Für DICH, für deine Mutter und....für dein weiteres Leben!
Denn nur wer mit der Vergangenheit abschließen kann (und der Tod sollte der Abschluss sein), der kann auch ohne Grollen und Hadern über die Vergangenheit hinwegsehen und irgendwann einmal....vielleicht.....darüber lächeln.

Denise, du kannst mir gerne auch eine PN (Persönliche Nachricht) schicken und Näheres berichten.
Vielleicht hilft dir das Aufschreiben bereits ein bisschen und ich verspreche dir eine Antwort von mir!

Liebe Grüße
Norma
Diagnose Brustkrebs Nov. 2001
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