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Alt 19.07.2007, 07:42
shalom shalom ist offline
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Standard AW: Abschläge bei Erwerbsminderungsrente für unter 60 jährige gesetzwidrig !!

Hallo,

hier ist der vollständige Text aus der Plusminus-Sendung:
http://www.daserste.de/plusminus/bei...dxk7kuc~cm.asp

Liebe Grüße
Shalom

Zitatanfang:

Erwerbsminderungsrente
Rentenkassen erkennen Richterurteil nicht an
MDR, Dienstag, 17. Juli 2007


Obwohl ein Urteil des Bundessozialgerichtes in Kassel vom 16. Mai 2006 eindeutig besagt, dass Erwerbsminderungsrenten bei unter 60-Jährigen wegen vorzeitigen Rentenbeginns nicht gekürzt werden dürfen, verweigert die Rentenversicherung die Zahlung. Insgesamt sind ca. 750.000 Menschen betroffen.

Die Vorgeschichte: Reform eines Gesetzes

Am 1. Januar 2001 trat das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in Kraft. Damit wurde die bisherige Erwerbsunfähigkeitsrente abgeschafft, deren Bewilligung unter anderem davon abhängig war, ob Betroffene Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Die neue Regelung machte die Bewilligung von Erwerbsminderungsrenten ausschließlich von medizinischen Kriterien abhängig, beispielsweise ob ein kranker oder behinderter Mensch weniger als drei Stunden pro Tag arbeiten kann (volle Erwerbsminderungsrente) oder drei bis sechs Stunden (halbe Erwerbsminderungsrente).

Gleichzeitig führte der Gesetzgeber Abschläge auf Erwerbsminderungsrenten ein. Für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme der Rente wird die Rente um 0,3 Prozent gekürzt - bis zu 10,8 Prozent (3 Jahre = 36 Monate x 0,3 Prozent = 10,8 Prozent). Damit wollte der Gesetzgeber verhindern, dass Versicherte auf Erwerbsminderungsrenten "ausweichen", um sich eine ungekürzte Rente zu sichern. Erwerbsminderungsrentner ab 60 sollten also ebenso Abschläge auf ihre Rente hinnehmen wie normale Altersrentner, die vorzeitig in Ruhestand gehen. Seit 2001 können Erwerbsminderungsrentner erst mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen.

Doch die Rentenversicherungsträger kürzten auch die Erwerbminderungsrenten für unter 60-Jährige. Mit Unterstützung des Sozialverbandes Deutschland klagte eine 47-jährige Frau aus Niedersachsen gegen diese Praxis. Denn für unter 60-Jährige kommt eine Kürzung nicht in Betracht, weil für sie eine vorgezogene Altersrente frühestens ab 60 Jahren möglich wäre und man demzufolge nicht von einem "Ausweichen" in die Erwerbminderungsrente sprechen kann. Dieser Argumentation folgte das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 16. Mai 2006 (Az. B 4 RA 22/05 R).

Das Urteil des Bundessozialgerichtes

Am 16. Mai 2006 entschied der 4. Senat des Bundessozialgerichts, dass die seit 2001 von den Rentenversicherungsträgern ausgeübte Praxis, Erwerbminderungsrenten bei unter 60-Jährigen zu kürzen, "gesetz- und verfassungswidrig" ist. Die Richter hatten sich u.a. auch damit beschäftigt, ob der Gesetzgeber die Kürzungen überhaupt geplant hatte, und fanden keine Anhaltspunkte dafür. Konkret heißt es in der Urteilsbegründung:

"Das Gesetz schließt ausdrücklich einen verringerten Zugangsfaktor ('Rentenabschlag') für Bezugszeiten vor Vollendung des 60. Lebensjahres aus ... Vielmehr legt dieses [das Gesetz, Anm. d. R.] fest, dass Erwerbsminderungsrenten erst dann einer 'Bestimmung des Zugangsfaktors' (also einer von 1,0 abweichenden Festsetzung) unterworfen sind, wenn der Rentner 'das 60. Lebensjahr vollendet hat' und damit erstmals ein Ausweichen vor Abschlägen bei Altersrenten überhaupt theoretisch möglich wird."

Zirka 750.000 Erwerbsminderungsrentner hätten in Deutschland in Folge dieses Urteils Anspruch auf eine höhere Rente und eine Nachzahlung für bis zu 4 Jahren rückwirkend. In Absprache mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben die Deutschen Rentenversicherer allerdings beschlossen, dem Urteil nicht zu folgen. Sie betrachten das Urteil als Einzelfallentscheidung und wollen weitere Verfahren bis zum Bundessozialgericht bringen. Da es neben dem 4. Senat am Bundessozialgericht vier weitere Senate gibt, die sich mit dem Leistungsrecht bei der gesetzlichen Rentenversicherung beschäftigen, wollen sie prüfen lassen, ob auch diese anderen Senate der Auffasung des 4. Senates folgen. Erst dann könne von einer "gefestigten Rechtssprechung" die Rede sein.

Im konkreten Fall bekommt also nur die aus Niedersachsen stammende Klägerin eine höhere Rente, die anderen Betroffenen müssen nun möglicherweise Jahre warten, vorausgesetzt, die Auffassung des 4. Senates setzt sich durch.

Der Sozialverband Deutschland, der das Urteil am Bundessozialgericht erstritten hat, kann das Verhalten der Rentenversicherungsträger nicht nachvollziehen. Wenn das Bundessozialgericht gegen einen Kläger urteile, werde das Urteil üblicherweise sehr schnell auf alle übertragen. Es sei selten genug, dass das BSG zu Gunsten eines Rentners urteile. Wenn nun die Rentenversicherung - zumal die Richter ihr eindeutig verfassungswidriges Handeln ins Stammbuch geschrieben haben - das Urteil nicht umsetzen wolle, sei dies, um es sehr vorsichtig zu formulieren, nicht in Ordnung, so Verbandspräsident Adolf Bauer.

Warum sich die Rentenversicherer so vehement gegen die Umsetzung des Urteils wehren, liegt offenbar an den finanziellen Auswirkungen. Angesicht der Betroffenenzahl könnten auf die Rentenversicherungsträger Nachzahlungsforderungen von bis zu 1,2 Milliarden Euro zukommen.

Neues Gesetz soll Nachzahlungen verhindern

Immer wieder konnten sich Versicherte auf höchstrichterliche Urteile berufen und eine höhere Rente sowie eine Nachzahlung fordern. Diese Nachzahlungen sind auf maximal 4 Jahre begrenzt (§ 44 SGB X). Die Rentenkassen kosten solche Grundsatzurteile hohe Millionen-, wenn nicht gar Milliardenbeträge. Andererseits ist es nur gutes Recht der Betroffenen, sich auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu berufen, wenn Behörden über Jahre hinweg Paragraphen falsch angewendet und Renten falsch berechnet haben.

Nun plant die Bundesregierung eine Regelung, nach der bestandskräftige Bescheide der Rentenversicherung nur noch mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen sind, wenn es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts oder eine "ständige Rechtsprechung" dazu gibt (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz, § 100 SGB VI-neu). Das heißt, eine Rückzahlung von Beträgen, die in der Vergangenheit von der Rentenversicherung zu Unrecht einbehalten worden sind, käme dann nicht mehr in Betracht. Experten halten die geplante Regelung für bedenklich, da das Gesetz nicht genau definiert, ab wann eine gefestigte Rechtssprechung vorliegt. So könnten die Behörden Verfahren wie jetzt bei den Erwerbminderungsrentnern über Jahre "verschleppen", bis sie endlich ein Urteil als "gefestigte Rechtssprechung" akzeptieren. Außerdem könnte die geplante Regelung gegen § 14 Grundgesetz (Eigentumsschutz) verstoßen, wenn Behörden Gesetze falsch interpretieren, die bei den Betroffenen zu hohen Renteneinbußen führen und ihnen die Möglichkeit nehmen, die über Jahre vorenthaltenen Gelder zurückzufordern.
"Die Rentner würden trotz höchstrichterlicher Urteile um eine Nachzahlung betrogen," kritisiert Adolf Bauer vom Sozialverband Deutschland die geplante Regelung. "Das ist ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien und ein Freischein für verfassungswidrige Rentengesetze."

Allerdings gilt die geplante Regelung nur für Urteile, die sich auf grundsätzliche Rechtsprobleme beziehen. Machen die Rentenkassen Fehler, indem sie sich zum Beispiel verrechnen oder falsche Werte (Löhne) zugrunde legen, müssen diese Fehler nach wie vor auch rückwirkend korrigiert werden.

Nachzahlungen bald nicht mehr möglich

Das neue Gesetz hat nicht nur Bedeutung für die Erwerbminderungsrentner, sondern für alle, die sich auf ein höchstrichterliches Urteil berufen wollen. Allerdings ist es schon bemerkenswert, dass der Gesetzentwurf nur wenige Tage nach der Entscheidung der Rentenversicherungsträger, dem Urteil nicht zu folgen, in den Deutschen Bundestag eingebracht worden ist. Sollte das aktuelle Urteil des Bundessozialgerichtes zu den Erwerbminderungsrentnern bestätigt, also zur "gefestigten Rechtssprechung" werden, hätten die Betroffenen zwar das Recht auf eine Neuberechung (Korrektur) ihrer Erwerbsminderungsrente, eine Nachzahlung kommt für sie aber nicht mehr in Frage. Und zwar für jene nicht, die bisher noch nicht mit Verweis auf das Urteil eine Korrektur ihrer Rente verlangt haben. Die Rentenversicherungsträger könnten so pro Fall bis zu 5.000 Euro Nachzahlung sparen.

Dieser Text gibt den Fernsehbeitrag vom 17.07.2007 wieder.


Zitatende
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Es ist nicht genug zu wissen, man muß es auch anwenden.
Es ist nicht genug zu wollen, man muß es auch tun.


(Johann Wolfgang von Goethe)
"Wilhelm Meisters Wanderjahre", 3. Buch, 18. Kapitel
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